Möwenspur
gefunden
hatte, ließ er sich nieder, nahm aus seiner Reisetasche ein
Buch und begann zu lesen. Ein Blick auf sein iPhone
zeigte ihm dass der Akku leer war. Er würde das Telefon
am Abend bei Isabelle aufladen.
Nach knapp eineinhalb Stunden lief der Zug in den
Bahnhof von Rennes ein. Jean-Marie dachte sofort an
Isabelle, die hier studierte. Vor ihm lag jetzt noch einmal
etwa die gleiche Zeit bis nach Rosporden.
Der Ausbau der TGV–Strecke war nicht abgeschlossen.
Bis nach Le Mans war es ja sehr schnell gegangen, aber
von dort war die Strecke nur noch mit der normalen
Zuggeschwindigkeit befahrbar. Er achte nicht auf die
vorbeiziehenden Landschaften oder die Gehöfte auf der
Strecke. Auch sein Buch steckte er wieder in seine Reisetasche. Seine Gedanken weilten nur noch bei Isabelle,
die er in Kürze wiedersehen würde.
*
Julie sah auf ihre Uhr, es war nun schon kurz nach 15
Uhr. Der Zug aus Paris würde in etwa einer Stunde in
Rosporden eintreffen. Dann würde sie Jean-Marie vom
Bahnhof abholen und mit ihm hierher nach Raguénez
kommen.
Der Letzte auf ihrer Liste. Für Jean-Marie
hatte sie mehr Zuneigung verspürt, aber nicht so viel,
dass es sie von der Tat abhalten würde. Ihrem Schwur,
sich an den Vergewaltigern ihrer geliebten Sylvie
zu
rächen, würde sie treu bleiben.
Niemals zuvor hatte sie
eine solche Zuneigung, ja Liebe entwickelt gehabt wie
zu Sylvie. Nur wenige Tage vor dem Segeltörn gestanden sie sich ihre gegenseitige Liebe und waren seitdem
ein Paar.
Sylvie erwähnte damals, dass ihr Patenonkel ihnen für
den Ausflug seine Yacht zur Verfügung stellen würde.
Mit alten Freunden, die sie aus ihrer Zeit an der Uni in
Paris kannte und einer Freundin aus Quimper, würden
sie einen dreitägigen Segeltörn unternehmen.
Sie waren dann für drei Tage auf dem Meer. Am Vorabend ihrer Rückkehr war es auf der Yacht, nach dem
Genuss von reichlich Alkohol zu der Vergewaltigung
gekommen. Sie hatte Julie unter Tränen alle Einzelheiten
davon erzählt.
„Du darfst niemals irgendeinem Menschen davon erzählen.“ Julie musste ihr das schwören. Julie hatte sich daran gehalten. Was hätte sie denn auch tun können? Sylvie erwähnte ihr gegenüber die Namen der Täter nicht,
genauer gesagt, sie wollte sie nicht nennen. Das war für
Julie das große Rätsel gewesen. Warum wollte Sylvie ihr
die Namen nicht nennen? Nachdem sie sich nur Stunden
später das Leben genommen hatte, reifte in Julie der Gedanke, die Täter zu bestrafen. Da sie aber nicht wusste
wer die Täter waren und wie sie es anstellen sollte sie
ausfindig zu machen, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben dauerte es über drei Jahre bis sie mit der Umsetzung ihres Vorhabens beginnen konnte. Es war der Patenonkel von Sylvie, der ihr seine Hilfe versprach und
ihr die Namen der Täter verriet.
Sie hatte ihn einmal aufgesucht als er in der Bretagne
weilte. Von Sylvie wusste sie, dass er ihr Patenonkel sei.
Auf ihn, sagte Sylvie damals kann ich mich immer absolut verlassen. Er ist mein Vater- und Mutterersatz.
Ihr Onkel kannte die Teilnehmer des Törns. Sylvie und
ihre vier Freunde gingen beinahe täglich bei ihm ein und
aus wenn sie in Paris waren. Er war es auch, der Julie
auftrug über jeden Toten die Fischabfälle zu streuen. Der
Grund, warum er diese Fischabfälle über die Leichen
gestreut haben wollte, war in ihren Augen einfach genial.
Sie wäre nie auf diese Idee gekommen.
Wieder schaute sie auf die Uhr und stellte fest, dass sie
jetzt fahren musste. Jean-Marie sollte so wenig wie möglich auf dem Bahnhof von Rosporden alleine sein. Diesmal durfte jeder sie beide sehen. Sie hatte mit ihm ausgemacht, dass sie ihn vor dem Bahnhof erwarten würde.
Julie setzte sich in ihren kleinen Mini und fuhr los. Bis
nach Rosporden war es nicht sehr weit. Sie fuhr nach
Névez, von dort über Melgven weiter nach Rosporden.
Als sie auf dem Vorplatz ankam, sah sie den TGV gerade einfahren. Sie blieb in ihrem Wagen sitzen und achtete auf die wenigen Leute die den Bahnhof verließen.
Sofort erkannte sie Jean-Marie. Sie fuhr ihm etwas entgegen, öffnete die Beifahrertür und ließ ihn einsteigen,
nachdem er seinen Koffer auf den Rücksitz gelegt hatte.
Sie beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm zur Begrüßung
einen kleinen Kuss
auf
die
Wange.
Diesmal
brauchte sie keine Vorsicht walten zu lassen. Sie trug ihr
Haar offen und hatte es nicht, wie in den vergangenen
Tagen streng nach hinten gekämmt.
Sie verließen Rosporden.
„Ich freue mich riesig bei dir zu sein,
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