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Moloch

Titel: Moloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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erkläre ich ihm. Ich halte ihm das blaue Tablett mit seinen Pillen hin. »Zieh dir eine davon rein, Mann. Die dröhnen gewaltig.«
    Anstatt eine zu nehmen, greift er sich gleich eine ganze Hand voll, und prompt reagiert das Tablett mit einem »Neeiiin!« Es hört sich an wie der Türsteher vor einem Club.
    »Scheiße«, sagt Jazza, schluckt aber trotzdem fünf von den Scheißdingern.
    Draußen vor seinem großen Fenster haben wir Spätsommer, es ist früh am Morgen, etwas neblig. Ein hübscher Ausblick, muss ich zugeben. Rasen, Bäume. Auch das Panorama ist verkabelt. Der ganze Laden strotzt nur so vor S. A.S. Schutz-aktivierte Sicherheitssysteme. Um uns reiche alte Säcke zu schützen.
    Einmal habe ich einen Jungen beobachtet, der über die Mauer auf unser Grundstück geklettert war. Ein harmloser kleiner Junge. Wahrscheinlich wollte er nur auf der Wiese spielen. Die Überwachungskamera entdeckte ihn, die Abwehranlagen schlugen zu. Sie beschossen ihn mit gepulstem Schall. Er griff sich an den Kopf und versuchte wegzulaufen, aber seine Füße knickten immer wieder ein. Jede Schallladung hat 150 Dezibel, und wenn man ihr ausgesetzt wird, kann man einfach nicht mehr klar denken. Er fiel auf die Knie, stand auf, fiel auf die Knie, stand auf, fiel wieder auf die Knie – bis das Personal ihn holte.
    Früher habe ich solche Sachen entwickelt. Software, die Gesichter erkennt. Jetzt erkennt sie mein Gesicht.
    Ich kehre in mein Zimmer zurück, und es stinkt wie in einer Müllgrube. In den Ecken liegen graue Haare herum. Es kotzt mich an, was ich für dieses Loch bezahle. Dafür könnten sie es wenigstens sauber halten. Es sollte schon seine Vorteile haben, ein alter Knochen zu sein.
    Ich drücke auf den Klingelknopf, und es meldet sich niemand. Ich drücke ihn wieder. Nichts passiert. Also baue ich mich vor dem Bildschirm auf und fange an zu toben. »Ich klingle, und niemand kommt, Mann!«, brülle ich. »Ich könnte gerade einen Herzinfarkt haben und hier oben sterben! Wenn ich das der Presse melde, könnt ihr euren Laden dicht machen! Wenn ihr nicht bald reagiert, reiße ich euch den Arsch auf!«
    Ungefähr eine Dreiviertelstunde später taucht der Junge endlich auf. Er bewegt sich wie in Zeitlupe, lehnt sich mit dem Rücken an die Wand, die Arme vor der Brust überkreuzt. Ich weiß nicht mal mehr, aus welchem beschissenen Land er kommt, aber ich kann sehen, was in ihm vorgeht. Er hat diesen fiesen, griesgrämigen Gesichtsausdruck, den man sich aneignet, wenn sich niemand einen Dreck um einen schert und man sich fragt, warum, zum Teufel, man sich anders verhalten sollte.
    Mittlerweile bin ich selbst ziemlich angefressen. »Wenn ich das nächste Mal klingle, setzen Sie gefälligst sofort Ihren Arsch in Bewegung.«
    »Tut mir Leid, Sir.« Sein »Sir« klingt so, als wäre es in seiner Muttersprache das Wort für Hund.
    »Scheiße, was ist los mit Ihnen?«
    »Nichts, Sir.«
    Ich suche nach einem Knopf bei ihm, den ich drücken kann. Sie wissen schon, wenn jemand Sie einfach ignoriert, machen Sie ihn wütend, und mit etwas Glück finden Sie dann heraus, was Sache ist.
    Also beleidige ich den Burschen. »Sprechen Sie Englisch?«
    Keine Reaktion.
    »Ist verdammt schwer, Trinkgeld zu kriegen. Oder kein Trinkgeld. Wollen Sie kein Trinkgeld?«
    Seine Arme schießen vor wie Springmesser, sein Kopf schwingt hin und her wie eine Laserkanone, und aus seinem Mund quillt ein Wortschwall wie aus einer TV-Dreckschleuder.
    Ich habe tatsächlich den Knopf bei ihm gefunden.
    Als er endlich aufhört, auf Albanisch oder Mongolisch – oder welche Sprache auch immer es sein mag – zu fluchen, höre ich ihn krächzen: »Ich sowieso kein Trinkgeld!«
    Das ist es also. Niemand gibt ihm Trinkgeld.
    Die Arschlöcher, die diesen Laden betreiben, bezahlen das Personal nicht. Man muss jedem hier Trinkgeld geben, den Schwestern, den Putzern, den Ärzten, der Bedienung. Sollten die Toiletten noch intelligenter werden, müssen wir auch ihnen demnächst was zustecken. Und die Heimleitung sorgt dafür, dass man das auch tut. Das gehört zu den Dingen, die ich an diesem Drecksloch am meisten hasse. Ständig schickt man uns kleine Überweisungsformulare. Die beschissenen Formulare erscheinen überall, auf dem Computer, in der Glotze, in der Mikrowelle, in den Brillengläsern. Und sie sprechen mit so grässlich zwitschernden dünnen Stimmchen: »Bestimmt möchten Sie dem Personal Ihre Dankbarkeit bezeugen.«
    Das Leben hier kostet hundert Riesen im Jahr, und

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