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Moloch

Titel: Moloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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wechselte Geschwindigkeit und Richtung abrupter, als Vögel es gekonnt hätten. Schnatternd und zwitschernd lavierte er planlos Richtung Süden.
    Sholl verfolgte ihn mit Blicken. Es waren Tiere, Aasfresser. Tauben, hatte man sie in einem Anflug von Galgenhumor genannt. Sie waren imstande, jemanden übel zu verletzen, sogar zu töten, doch wie Sholl erwartet hatte, zeigten sie kein Interesse an ihm. Zogen in entnervendem Zickzack über ihn hinweg. Wirkten unschlüssig.
    Jede Taube war ein überkreuztes, an den Daumen verbundenes Händepaar. Gewölbte Handrücken und Finger flatterten grotesk. Sholl beachtete sie nicht weiter. Vorgebeugt starrte er in das Wasser der Themse, das unter ihm vorbeiströmte, unter den Tauben, blindes Wasser, das nichts von allem widerspiegelte.
     
    Selbstverständlich war die Stadt nicht ausgestorben, und gegen Mittag vernahm man die Geräusche erwachender Geschäftigkeit und sporadischer Scharmützel.
    Sholl stand in den Trümmern der Victoria Street neben dem gestrandeten Bus, der ihm als Wohnung diente. Es war ein neuerer Doppeldecker, die Fenster vergittert mit einem schiefen Kreuz und Quer ungleich langer, festgeschweißter Eisenstangen. Zusätzlich hatte man ihm eine schlecht sitzende Panzerung aus Eisenplatten verpasst. Die Nummer, 98, war noch sichtbar. An den Seiten klebten die Reste von Werbetransparenten. Drinnen befanden sich gehortete Lebensmittel und Treibstoff, seine Bücher und – literarisch weniger wertvoll – Ratgeber zum Überleben für den Tag Danach.
    Aus Brompton tönte das Knattern von Handfeuerwaffen herüber. Sholl war zu Ohren gekommen, irgendwo westlich des Sloane Square hätte sich ein kleiner Trupp Fallschirmspringer neu formiert, und die Schüsse schienen das zu bestätigen. Er hatte keine Ahnung, gegen was sie kämpften oder wie lange sie sich würden halten können.
    Schon seit einigen Wochen hatte er in der Stadt keine Artillerie mehr gehört. Der Widerstand bröckelte. Inzwischen konnte er sicher sein, dass alles Gewehrfeuer, das sich vernehmen ließ, von seiner Partei stammte. In den ersten paar Kriegswochen hatte der Gegner sich genau der gleichen Waffen bedient wie die Verteidiger. Es wäre – im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Sholl sarkastisch – ein ausgewogener Krieg gewesen, bei exakt identischen Kräfteverhältnissen, abgesehen von zwei Dingen.
    Die Imagos waren aus dem Nichts mitten in der Stadt aufgetaucht. Wie einst die Bewohner Trojas, erwachten die Londoner, und die Invasoren waren unter ihnen. Infanterie durchkämmte die Straßen, Kanonenboote beschossen die Stadt von innen, ebneten Westminster ein und einen großen Teil der Gegend am Flussufer.
    Der zweite Punkt zugunsten der Imagos war die Tatsache, dass sie flexibel waren. Anfangs bedienten sie sich des traditionellen Waffenarsenals, doch bald erkannten sie, oder erinnerten sie sich, dass sie nicht darauf beschränkt waren, dass ihnen andere Methoden der Kriegsführung zu Gebote standen. Ihr General hatte sie darin unterrichtet.
    In den zerstörten Straßen nördlich von Victoria, zwischen bis in die Grundfesten erschütterten Gebäuden, instabil und dem Einsturz nahe, entdeckte Sholl die ersten Menschen für diesen Tag. Er sah sie in den Schaufenstern aufgegebener Geschäfte, erspähte sie am anderen Ende von Seitenstraßen.
    Die letzten Londoner. Millionen waren – weg. Tot, verschwunden, geflohen. Von den Übriggebliebenen waren einige aggressiv geworden, wie man es bei in die Enge getriebenen Tieren erlebt. Mehrmals hatte Sholl nur um Haaresbreite vermeiden können, ihnen in die Hände zu fallen, und jeden Tag gab es mehr vagabundierende Banden, die die sterbende Stadt ausplünderten. Mit einer erbärmlichen Art von Brutalität attackierten sie Mitmenschen, die das Unglück hatten, ihnen über den Weg zu laufen.
    Bei diesen scheuen Gestalten jedoch handelte es sich nicht um welche von dieser Sorte. Sholl sah einen Mann, der in dem Trümmer- und Scherbenhaufen eines Lebensmittelmarkts Konserven einsammelte, und rief ihm einen Gruß hinüber. Der Mann schwenkte abwehrend die Hände in Sholls Richtung, sei still, eine übertriebene Gebärde der Angst. Sein Gesicht blieb abgewandt. Sholl schüttelte den Kopf.
    Sholl stand in der Straßenmitte, wo er sich eigentlich nicht hätte sicher fühlen dürfen. Was nach Tollkühnheit aussah, war wohl überlegt. Der Feind setzte seine Kampagne gegen die Nebenstraßen fort, in welchen sich die letzten Widerständler verschanzt hatten. Er

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