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Moloch

Titel: Moloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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wären sie unberechenbare Lebewesen.
    Schließlich richtete er sich auf und schwang die Beine von der Mauer. Der Fluss befand sich nun hinter ihm. Der Mann beugte sich vor, bis sein Kopf über dem Weg hing, und über dem schlammigen Wasser, das darauf stand. Er starrte auf die vom Wind gekräuselte Oberfläche.
    Die Lache befand sich genau unter seinem Gesicht, und nichts spiegelte sich darin, genau wie er erwartet hatte.
    Er schaute genauer hin, bis schattenhafte Umrisse sichtbar wurden. Ein Schleier zog über die dünne Wasserschicht, die Geister von Farben und Gestalten: rätselhaft, aber nicht beliebig, seltsamen Launen gehorchend.
    Der Mann stand auf und ging weg. Hinter ihm stürzte das Sonnenlicht auf die Themse. Zerschellte nicht, prallte nicht in funkelnden Splittern von den eiligen Wellen zurück. Es tat andere Dinge.
     
    Er ging in der Mitte der Wege und Bürgersteige, wie auf dem Präsentierteller. Sein Schritt war schnell, aber nicht gehetzt. Auf seinem Rücken hüpfte eine Schrotflinte. Er schwenkte sie über die Schulter nach vorn und trug sie quer vor der Brust, dem Anschein nach mehr zur Beruhigung als zum Gebrauch.
    Der Mann überquerte den Fluss. Unter dem Bogen der Grosvenor Bridge machte er Halt und kletterte im Tragwerk nach oben. Wo ein Bogen aus Schatten hätte sein sollen, war die Brücke geborsten, stachen dicke Lichtbündel herab. Der Mann arbeitete sich durch die klaffenden Wunden in ihrer Konstruktion, die von kürzlichen Ereignissen verursacht waren.
    Heraus kam er in einem Krater aus aufgebogenen Bahngleisen. Eine Explosion hatte Ziegeltrümmer und Schwellen in konzentrischen Kreisen aufgeworfen, und die Stahlschienen bäumten sich zu einer erstarrten Fontäne. Der Mann war von ihnen umschlossen. Er stapfte an dem Zerstörungswerk der Bombe vorbei bis dorthin, wo die Gleise unversehrt weiterliefen.
    Monate zuvor, möglicherweise im Augenblick dieser Interruption, war ein Zug auf der Brücke zum Halten gekommen und stand dort noch. Er sah völlig unbeschädigt aus, nicht einmal die Fensterscheiben waren zersplittert. Die Tür des Führerstands hing schräg in den Angeln.
    Der Mann griff danach, warf aber keinen Blick in das Innere, strich nicht mit der Hand über die Armaturen. Er hangelte sich, die Tür als Leiter benutzend, auf das flache Dach des Zuges. Stand auf, das Gewehr locker im Anschlag, und hielt Umschau.
     
    Sein Name war Sholl. Er war an diesem Tag bereits drei Stunden unterwegs, ohne bisher einer Menschenseele begegnet zu sein. Vom Dach des Zugs aus gesehen, wirkte die Stadt ausgestorben.
    Im Süden das Trümmerfeld, einst die Battersea Power Station. Ohne sie war die Skyline bemerkenswert: eine immer währende Überraschung. Sholl konnte über das dahinter liegende Industriegelände hinwegschauen – die Gebäude dort waren erheblich weniger beschädigt – bis zu einem Häuserkomplex, der noch fast genauso aussah wie vor dem Krieg. Am Nordufer das Lister Hospital schien gänzlich intakt geblieben zu sein, und die Dächer von Pimlico waren idyllisch wie immer – doch Brände wüteten, und über Nord-London wuchsen Bäume giftigen Qualms gen Himmel.
    Der Fluss war ein Schiffsfriedhof. Neben den modrigen Kähnen, die von jeher ein fester Bestandteil des Bildes gewesen waren, ragten die Steven von Polizeibooten und die Aufbauten und Geschützrohre gesunkener Kanonenboote. Dazwischen lagen gekenterte Schlepper gleich rostigen Eilanden. Die Themse schob sich träge um die Hindernisse herum.
    Das Unvermögen des Lichts, auf der Oberfläche zu funkeln, machte den Fluss stumpf wie getrocknete Tinte, nachträglich in ein Scherenschnitt-London gepinselt. Wo die Pfeiler der Brücke das Wasser trafen, endeten sie wie abgeschnitten.
    Früher einmal wäre Sholl in einer scheinbar ausgestorbenen Stadt auf Erkundung gegangen, der einsame Wolf mit Furcht im Nacken. Mittlerweile waren ihm diese Gefühle zuwider geworden, ebenso wie die Geilheit, die bald damit einherging. Er wanderte auf dem Dach des Zuges nach Norden, in der Absicht, den Gleisen zwischen die Mauern Londons zu folgen, bis hinunter zur Victoria Station.
    Einige Meilen weit weg, aus der Richtung von South Kensington, ertönte ein hoher, an- und abschwellender Ton. Sholl packte die Schrotflinte fester. Ein Schwarm erhob sich von den Straßen dort hinten, Tausende nicht genau identifizierbarer Leiber. Keine Vögel. Der Schwarm manövrierte nicht nach den bekannten Mustern der gefiederten Stadtbewohner, sondern ruckartig,

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