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Moloch

Titel: Moloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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zeigte jedoch wenig Neigung, Jagd auf Londons verängstigte, rattengleiche Überlebende zu machen. Für einen solchen konnte man ihn halten. Und auch, wenn er noch nicht hundertprozentig darauf vertraute, glaubte Sholl, einen weiteren Grund zu haben, die Imagos nicht fürchten zu müssen.
    Während er den Mann beobachtete, der geduckt, wie ein Gossenfledderer, von Müllhaufen zu Müllhaufen huschte, stets darauf bedacht, in Deckung zu bleiben, fasste Sholl einen Entschluss.
    Er machte sich auf den Weg. Sein Rucksack war schwer, voll gepackt mit Büchern, Konserven und Utensilien aus seinem Bus; unwillig ruckte er ihn höher, in eine bequemere Position. Er folgte der Victoria Street nach Osten, vorbei an den Häusern, die noch standen, an ausgebrannten Autos und den Hinterlassenschaften des Krieges, vorbei an den amorphen Monumenten, welche die siegreichen Invasoren zu errichten pflegten, um sie alsbald zu vergessen. Dann Buckingham Gate hinauf nach Norden, auf dem direktesten Weg.
     
    Tausende mussten in London überlebt haben, aber ständiger Todesgefahr gewärtig, kamen sie wie scheues Wild nur nachts heraus und huschten von Deckung zu Deckung. Sholl verschwendete keinen Respekt und kaum einen Gedanken an sie. Es gab einige wenige andere, mehr von seiner Art. Ab und an bekam er sie zu Gesicht: Männer und Frauen, die in der Ruhe nach dem Sturm furchtlos auf Dächern standen oder wie abgestumpft an Grünanlagen oder Flüssen oder dunklen Ladenzeilen entlangschlenderten. Er hatte genug von ihnen sterben sehen, um zu begreifen, dass nicht jeder mit einer der seinen vergleichbaren Chuzpe gegen Angriffe des Feindes gefeit war.
    Und es gab Soldaten. Die Kommandostruktur war gleich nach dem Ausbruch der Kämpfe zusammengebrochen, doch ein paar Einheiten überdauerten und harrten aus. Heutigentags waren sie fast ebenso zu fürchten wie die Invasoren. In manchen Bezirken hatten sie ihre Kräfte vereint, anderswo kämpften sie gegeneinander, lieferten sich Feuergefechte um den Besitz eines halb geplünderten Kaufhauses oder einer Tankstelle. Urplötzlich erschienen sie in einem mit Maschinengewehren bestückten staubfarbenen Jeep, oder barsten in ihren zerschlissenen Kampfanzügen aus der Deckung eines Parkhauses und veranstalteten Säuberungsaktionen in dem Areal, welches sie zu »sichern« vorgaben.
    Jeder Mensch, der ihnen über den Weg lief, wurde mit der Waffe bedroht und musste sich hinlegen. Ihre Absichten waren nach wie vor ehrenhaft, nahm Sholl an, oder wenigstens nicht bösartig. Sie bemühten sich mit einer absurden Verbissenheit, London zu verteidigen. Er war sogar Zeuge einiger ihrer kleinen Triumphe gewesen. Sie feuerten Gewehrsalven in Schwärme der gefräßigen Tauben, übersäten das Pflaster mit den monströsen Flatterhänden, retteten manchmal sogar das von den Tauben verfolgte Wild. Auch stärkere Gegner fielen den Soldaten zum Opfer, gelegentlich. In den Anfangswochen der Kämpfe hatten sie etliche Flieger vom Himmel geholt, liquidierten dem Anschein nach (es war oft schwer zu beurteilen) bei verschiedenen Gelegenheiten Befehlshaber der Imagos. Jedoch die Logik der Niederlage – und sie waren besiegt – hatte sie zersplittert.
    Die Soldaten versetzten sich in eine Zukunft, in der sie siegreich gewesen waren. Sie erlebten jede Sekunde wie eine Erinnerung, déjà vu. Die Rattenmenschen hingegen, die zu lichtscheuen Müllfressern verkommenen Bürger Londons, existierten ausschließlich in einer ihnen albtraumhaft erscheinenden Gegenwart. Sholl wusste nicht, an welchem Punkt in der Geschichte er lebte, er und die wenigen anderen von seiner Art. Er fühlte sich herausgelöst aus der Zeit.
    In manchen Gegenden Londons schienen die Militärs einen Hang zur Gewaltherrschaft zu verspüren, den sie mit übertriebener Leutseligkeit kompensierten. Sie beugten sich aus ihren befestigten Supermärkten oder Souterrains, und wenn welche der verängstigen und ausgehungerten Einwohner in die Nähe kamen, riefen sie sie freundlich an und forderten sie auf, sich ihnen anzuschließen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Sholl ein paar Tage bei einer Einheit verbracht, die am Russell Square in einem Wohnheim für ausländische Studenten hauste. Die Soldaten hatten eine Kaserne daraus gemacht, pinnten ihre Dienstpläne und Wacheinteilungen an die Schwarzen Bretter, über die Handzettel mit Informationen zu Skiausflügen und Italienischunterricht.
    Wiederholt hatten sie sich bemüht, Verbindung zu irgendeiner Befehlszentrale

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