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Moloch

Titel: Moloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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einem noch immer wahrnehmbaren leichten Beben.
    Etwas flüchtete vor ihm, die Mauer hinauf, mit Eidechsenbewegungen grotesker als alles, was Sholl je gesehen hatte. Er näherte sich der Kreuzung bei der U-Bahn-Station. Hier, im nächsten Umkreis des Stadtzentrums, tummelte sich die Fauna der Spiegel in Massen.
    Nach einer Linkskurve hatte man freie Sicht auf die Kreuzung. Für eine letzte Galgenfrist konnte Sholl vermeiden hinzuschauen, stattdessen konzentrierte er sich auf das Wasser ringsum, die Pfützen, den nassen Asphalt. Das Licht war grell, trotz der Wolken, aber natürlich wurde nichts reflektiert, gab es keine spekularen Glanzflecken. Der Regen wusch die Stadt sauber und sickerte in ihre Ritzen und tarnte sie mit einem Fleckenmuster, färbte sie dunkel. Sholl trottete durch die Nässe, die ihn nicht widerspiegelte. Auf regenschwarzen Straßen, alle Konturen scharf gezeichnet, als wäre London ein Kupferstich, obwohl die stumpfen, durchfeuchteten Farben das Licht schluckten.
    Zu guter Letzt blieb ihm nichts anderes übrig, als den Blick zu heben.
     
    Früher einmal hatten die Fliesen des U-Bahnhofs geglänzt. In diesen neuen Zeiten sah das Dunkelgrün gestreift aus, wusch herablaufendes Wasser Bahnen durch einen schmierigen grauen Algenbelag. Die Maschendrahttore am Eingang waren brutal weit aufgebogen, aus Schloss und Angeln gerissen, reckten sich aus dem düsteren Schacht wie Wurzeln aus einer Höhle. Im unbeleuchteten Innern erkannte Sholl schemenhaft den Fahrkartenschalter, die festgekeilten Edelstahltüren der außer Betrieb gesetzten Aufzüge, tintenschwarz gähnend die Kabinen.
    Auf den Straßen vor dem Bahnhof tummelten sich huschende Gestalten. In der Station wimmelte es von ihnen, von dort schwärmten sie aus, streunten durch die Ruinen.
    Die hirnlosen Ausgeburten des Krieges, der Bodensatz der Schlachten. Sie quollen hervor wie Ratten aus Gullys. Jahrhundertelang zu Tausenden gezeugt, kleine Sprösslinge der Augenlust, hervorgebracht von Leidenschaft in Puderdosenspiegelchen, Psychentriptychons, Kachelwänden in Turnhallen. Imagosporen. Ihnen war nur eine Existenz von der Dauer eines Wimpernschlags beschieden gewesen, Entstehung und Vergehen zwischen Heben und Senken eines Augenlids, ein endloser Pelemele-Lebenszyklus. Doch als Spiegelung eine Tür wurde, waren sie frei, konnten leben. Sich vermehren. Sie waren das Beiwerk. Caput mortuum der Putzsucht, Schnipsel der menschlichen Gestalt, ausgewürgt und ignoriert in den Echos zwischen Spiegeln. Hände stelzten durch die Gosse, hinterließen im Modder die punktförmigen Eindrücke von Fingerspitzen. Am Hang entdeckte Sholl die verwesende Leiche eines Menschen. Mehrere Hände wanderten spitzfingrig darauf herum, kauerten sich nieder, zupften mit den Nägeln an dem fauligen Fleisch. Sie weideten.
    Daneben gab es kleine Wolken mit Farbe beschmierter Münder, die gleich plumpen Schmetterlingen durch die Luft gaukelten; zur Fortbewegung spitzten sie ein Kussmäulchen, wie jemand, der vor dem Spiegel Lippenstift aufträgt. Augen plinkerten zwischen Sein und Nichtsein, bummelten durch gefalteten Raum.
    Am Rand von Sholls Gesichtsfeld bleckten grinsende Gebisse. Ein Bizeps überquerte peristaltisch winkelnd die Kreuzung. Wie Spinngewebe hingen Haarimagos von Fenstersimsen, bauschten sich gegen die Windrichtung. Am Himmel flogen Tauben, schlugen lebhaft mit den Fingern.
    Sie alle waren hirnlose Aasfresser, im Gefolge der Kämpfe aufgetaucht, und ihre Zahl hatte zugenommen. Sie ergossen sich aus den Spiegeln und starben nicht. Ignorierte Bilder und Nachbilder, verwildert.
    Dazwischen bewegten sich Männer und Frauen, unbeeindruckt von den extravaganteren Wesenheiten. Ihre Kleidung mutete ungewöhnlich an, eben weil sie gewöhnlich war: Anzüge, Jeans, Shirts, normale Alltagskleidung wie aus der Zeit vor dem Krieg. Sie waren die Vampire, Imagos in Menschengestalt. Sie redeten nicht miteinander. Sholl drückte sich flach gegen die Hauswand, beobachtete ihr Treiben hinter der Ecke hervor.
    Jeder Vampir wanderte konzentriert auf seiner eigenen schlurfenden Bahn, folgte mit autistischer Präzision einem sich wiederholenden Muster, dabei schenkte er seinen Gefährten nicht die geringste Beachtung. Jeder redete murmelnd mit sich selbst.
    In ihrer blinden Unbeirrbarkeit gemahnten sie an langsam ablaufendes Aufziehspielzeug; zwischen ihnen schwirrten und krabbelte das Kroppzeug, die Schnappschüsse verkörperlichter menschlicher Teilansichten. Hoch oben, dicht

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