Moloch
explodierte eine von dem Offizier geworfene Handgranate in dem Bereich der Straße, wo die Erscheinung sich manifestierte, und gnädigerweise löste sie sich auf.
In Camden waren feindselige Zusammenstöße mit Überlebenden zu erwarten. Wie auf Abruf (die Soldaten hatten einander seit vielen Metern Bereitschaft signalisiert) stürmte die Camden-Gang aus der Deckung der Kanalbrücke und griff an. Die Soldaten empfingen sie mit kalkulierten Feuerstößen. Sholl saß in dem Führungsfahrzeug und konnte von diesem Logenplatz aus das kleine Scharmützel verfolgen. Die Horde Punks schoss mit Armbrüsten und Schrotflinten und besaß nicht den Hauch einer Chance gegen die Salven von Seiten des Militärs.
Nachdem eine Anzahl von ihnen gefallen war, gab der Rest Fersengeld. Sie seilten sich von der Brücke in unten liegende Kähne ab, die so schwerfällig in Fahrt kamen, dass die Soldaten in aller Gemütlichkeit Handgranaten hineinplumpsen lassen konnten. Nachdem zwei Kähne in die Luft geflogen waren, suchte der Offizier besorgt den Himmel ab, nach Tauben oder fliegenden Imagos, und befahl seinen Leuten mit schneidend erhobener Stimme, die die Schmerzens- und Todesschreie übertönte, die Kampfhandlungen abzubrechen und weiter vorzurücken. Nach Sholls Überzeugung war sein Beweggrund ebenso sehr Mitleid wie Zeitdruck.
Sholl war erstaunt festzustellen, dass das sehr einseitige Geplänkel seinen Adrenalinpegel in die Höhe getrieben hatte. Auch der Atem der Soldaten ging stoßweise: Sie hatten im Lauf der vergangenen Wochen reichlich Kämpfe und Elend erlebt, jedoch nicht viele Feuergefechte und nur wenige, bei denen Menschen die Kontrahenten gewesen waren.
Am späten Nachmittag erreichten sie das Ende der High Street in Camden und machten Halt für die Nacht. Sie biwakierten im zementierten Vorhof eines Blocks mit Sozialwohnungen an der Crowndale Road.
Seit die Soldaten Sholl an der U-Bahn-Station den Klauen der Vampire entrissen und wie selbstverständlich als ihren Führer eingesetzt hatten, waren mehrere Nächte vergangen, durchgefeiert, genutzt für Vorbereitungen zu dieser Mission, und nun brach ihr letzter gemeinsamer Abend an. Sholl wusste es und fragte sich, wer noch außer ihm.
Sie machten Feuer. Sholl stocherte mit einem Stock zwischen den Scheiten, beobachtete die sprühenden Funken.
Als die Dunkelheit hereinbrach und sie fertig waren mit Essen, forderte Sholl sie auf, Geschichten zu erzählen. Jeder Überlebende konnte mit vergleichbaren Erlebnissen aufwarten: aus der Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Krieges, als die Dinge sich zu verändern begannen. Der Schreck der Erkenntnis. Der Moment, in dem die Spiegelbilder ein Eigenleben entwickelten.
»Von Anfang an«, sagte ein Mann, unterbrochen von Pausen, um an seiner Zigarette zu ziehen, »ich wusste es von Anfang an. Man meint, wenn so was passiert, so was Verrücktes, würde man erst glauben, man ist übergeschnappt, man würde nach einer vernünftigen Erklärung suchen, aber ich wusste von Anfang an, dass die Welt koppheister gegangen ist, nicht ich. Ich hatte das Gesicht voller Rasierschaum und bückte mich, um ihn abzuwaschen, und als ich mich wieder aufrichte, wartet mein Spiegelbild auf mich. Es hatte sich nicht gebückt. Es hatte sich das Rasiermesser quer über die Visage gezogen, blutete durch den weißen Schaum und starrte mich an. Ich fühlte nicht einmal nach einem Schnitt an meiner Wange. Ich wusste, das war nicht mehr ich.«
»Ich hörte Geräusche«, wusste eine Frau zu berichten. »Er zeigte mir weiter mein Gesicht, aber ich hörte Geräusche. Aus meinem Kosmetikspiegel. Ich kann es nicht glauben. Ich glaube nicht, was ich höre. Deshalb lege ich ganz langsam mein Ohr daran. Erst rührt sich nichts und dann, weit weg und hohl, wie vom anderen Ende eines langen Flurs, höre ich das Geräusch von Messerwetzen.«
Ein Mann stand in morgendlicher Nacktheit vor dem Badezimmerspiegel und stellte entgeistert fest, als er an sich hinuntersah, sein Glied war schlaff, doch sein Gegenüber hatte eine Erektion. Ein anderer war von seinem Spiegelbild angespuckt worden und sah den Speichelklumpen an der falschen Seite des Spiegels herunterrutschen. Und es waren nicht immer die eigenen Spiegelbilder. Eine Frau erzählte, und ihre Stimme schwankte bei der Erinnerung, wie sie beim Frühstück lange, ungläubige Minuten den Blick zwischen ihrem Mann und dem Spiegel neben ihm hin- und herwandern ließ, erleben musste, wie sein Spiegelbild ihr in die Augen
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