Moloch
gestellt und ausgemerzt haben. Ich empfinde denselben Hass wie immer, doch ich bin nicht mehr sicher, wo er aufhört, wo ich bin, wo dieser Hass ist und wo ich beginne.
Ich merke, dass ich keine Gesellschaft von Meinesgleichen wünsche. Ich will allein sein, ich will allein sein.
Die Gleise haben mich aus der Unterwelt herausgeführt in die offene, flache Stadt des weiten Himmels, das Weichbild Londons, wo Gebäude halbhoch und verletzlich die Erde überziehen und es nicht aussieht wie eine Stadt, sondern wie eine gewachsene Landschaft, nicht wie ein Vorort, sondern wie ein Zufall, wie über die Hügel verstreutes Geröll. Ich bin weiter gewandert. Immer weiter.
Hinter mir steigt aus der Mitte der Stadt Rauch in den Himmel. Hier wirken die Rückseiten der Häuser an meinem Schienenstrang, die Synagogen und Lagerschuppen, Friedhöfe und anderes, nur vorübergehend verlassen – alle hier, ihr alle, seid nur für einen Augenblick fortgegangen (kalte Lichter brennen in manchen Häusern, ich weiß nicht wie). Wo ich euch jetzt sehe, da gehört ihr nicht hin, seid ihr ebenso Eindringlinge wie ich. Ihr schleicht geduckt um die Ecken. Dies sind nicht mehr eure Häuser, ihr wisst nicht mehr, wie man darin wohnt. Ihr verkriecht euch lieber in einem Souterrain, einem Keller, in einem geschlossenen Kino mit zerbrochenen Transparenten, denn so wisst ihr, dass ihr euch versteckt. Vor mir.
Ihr nicht und ich nicht, keiner weiß mehr etwas anzufangen mit dieser Stadt.
Ich gelange an das Ende der Gleise, und es ist dunkel und London hat sich der Nacht ergeben. Vor mir sind Bäume. Hier gibt es Wald.
Immer noch nordwärts, barfuß auf den Asphaltstraßen. Vorbei an Autos mit offenen Türen, die schlummern wie Katzen. Die Bäume rücken näher, umfangen mich. Über die breite Straße (wonach suche ich?) und weiter auf – Wiese. Gesäumt von Wald. Verlassene Schulen und Sportplätze. Zwischen Bäumen hindurch, die sich dichter zusammendrängen, nicht, als wollten sie mir den Weg versperren, sondern als wäre es ein Spiel.
Der Mond ist aufgegangen, – im Süden höre ich Meinesgleichen sich sammeln. Es gemahnt mich an Wale. Ich kann sie hören, aber ich kann sie nicht sehen, und das ist eine Erleichterung.
Pfade durchziehen das Grün. Ich bin ihnen gefolgt, und die Bäume weichen auseinander, um mir ein Geheimnis zu enthüllen. Ich sehe es und ich weiß, das ist es, wonach ich gesucht habe.
Wir wussten nie – oder mir hat man es nicht gesagt –, was genau geschehen ist, wie unsere Befreiung möglich wurde. Einiges ist mir bekannt. Der Fisch aus dem Spiegel war das Gehirn. Seinem Genie verdanken wir alle unsere Befreiung, nicht etwa ein paar unangepassten Renegaten, die gezwungenermaßen Spione wurden und nun als Mementos fungieren.
Das Licht verhält sich wie immer. Es splittert. Es prallt zurück von Flächen, auf die es fällt. Doch wo es in steilerem Winkel auftrifft, in starker, stärkster Bündelung, wird ein Punkt erreicht, an dem der Schlüssel sich dreht und dort, wo Glanz ist, das Licht transmutiert und eine Tür entsteht.
Den Spiegel zu durchdringen war ein großartiges Erlebnis, war eine Wonne, die ihr euch nicht vorstellen könnt. Alle Asymmeten stimmen darin überein. Ein Gefühl der Vollständigkeit. Der Ganzheit. Doch es ist nicht der Spiegel, der reflektiert, es ist der Belag, die Haut. Das ist der Ort, wo die Imagos lebten. In der Spiegelhaut. Mit dem Schritt hinaus beraubten wir uns selbst der Möglichkeit zur Rückkehr, denn das Glas zerbrach dabei. Wir überschütteten bei unserer Ankunft jene, deren Gestalt unser Kerker war, mit scharfkantigen Splittern, so dass sie bluteten und schrien, noch ehe wir Hand an sie gelegt hatten.
Als wir erwachten aus dem Rausch der Geburt in die Freiheit, drehten wir uns um und sahen, dass die Tür verschlossen war, der Spiegel in Scherben, übrig nur ein Zackensaum aus Glas und dünner Silberfolie.
Heutigentags sind alle Spiegel Türen, immer offen. Die Imagos, solche, die nicht in einem aufgezwungenen Körper gefangen sind, vermögen Glas zu durchdringen, ohne es zu beschädigen, oder sich selbst. Sie können mit der Spiegelhaut verschmelzen. Uns ist es versagt. Wenn wir uns in die Haut drücken wollen, zerreißen wir sie.
Es gibt andere Türen. Spiegel, die keine Glasscheibe versiegelt, aber sie sind schwer zu finden. Blanke Platten aus Chrom oder Aluminium, auf Grund einer besonderen Bearbeitung unempfindlich gegen äußere Einflüsse, die sie trüben
Weitere Kostenlose Bücher