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Moloch

Titel: Moloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville , Michael Moorcock , Paul di Filippo , Geoff Ryman
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rächende Horde, und die Soldaten feuerten mit verbissener und dummer Tapferkeit, zerfetzten mit ihren Salven Momentaufnahmen aus Fleisch und Blut, die nur zusammensanken und koagulierten und neu entstanden. Die Leiber der Imagos wurden in Stücke gerissen, unablässig, aber dies waren keine Vampire, dies war die keiner Einschränkung unterworfene Fauna der Spiegel, der ihr Kleid aus Fleisch nur als Maskerade diente.
    Niemand hatte damit rechnen können. Es überstieg jedes Vorstellungsvermögen. Die Soldaten hätten mit einiger Berechtigung davon ausgehen können, dass sie wenigstens eine Chance zum Rückzug haben würden. Sie schrien, als die Imagos sie erreichten. Aufhören!, brüllte Sholl, aber die Imagos gehorchten ihm nicht. Sie ließen ihn unbehelligt, mehr nicht. Sie ignorierten ihn und setzten ihren Angriff fort. Aufhören! Aufhören!
    Die Soldaten fielen, einer nach dem anderen. Nachdem fünf oder sechs von ihnen blutig gestorben waren oder in Räumen verschwunden, die sich ineinander falteten bis zur Nicht-Existenz, oder zur Salzsäule erstarrten und annihiliert wurden, wandte Sholl sich ab. Nicht Gefühllosigkeit war es, die ihn veranlasste, schweren Schrittes die Treppe wieder hinaufzusteigen, während hinter ihm das Gemetzel seinen Fortgang nahm. Er konnte sich nicht umdrehen, er konnte nicht mit ansehen, was zu beenden er nicht die Macht hatte, aus Scham.
    War er wirklich überrascht gewesen, als er sich umdrehte und die Soldaten dort stehen sah? Nein. Schuldbewusstsein würgte ihn. Warum hast du sie mitgebracht?, fragte seine innere Stimme. Zur Gesellschaft? Zum Schutz? Als Opferlämmer?
    Sholl schüttelte heftig den Kopf und bemühte sich, das grässliche Geschehen zu verdrängen. Er zitterte so stark, dass er fürchtete, seine Beine könnten nachgeben. Er drückte gegen die halb offene Tür zum Foyer, und diese Bewegung fiel exakt mit einem gurgelnden Aufschrei zusammen, der sich anhörte, als käme er aus der Kehle des Kommandanten. Sholl verharrte auf der Schwelle. Ich hatte keine Ahnung. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen warten, sagte er zu sich selbst. Er hatte gut daran getan, sich ihre Namen nicht zu merken.
    Sein Gesicht war steinern, als er in die Dunkelheit hineinschritt, das Gewehrfeuer hinter sich ließ und die Imagos beim Spiel.
     
    Der Weg, im Stockfinstern, war nicht weit. Ihn begleitete der Widerhall seiner Schritte und der gedämpften Lärm des Massakers draußen. Er wusste, wo der Fisch aus dem Spiegel zu finden sein würde.
    Er ließ die Südtreppe linker Hand hinter sich, durchquerte die gewaltige Säulenhalle, wo die zu Toiletten und Cafés hinweisenden Schilder noch an den Wänden hingen wie ehedem. Sholl merkte, dass er weinte. Genau hier, hier und jetzt war er bereit, der Macht hinter den Imago-Streitkräften gegenüberzutreten, dem Lenker der Dinge, dem Fisch aus dem Spiegel. Er holte tief Atem, konzentrierte sich auf seinen Plan. Vor ihm die Tür zum Lesesaal, nach einem weiteren tiefen Atemzug öffnete er sie und trat ein.
    Der Lesesaal. Die Rotunde, früher das Herz der British Library, nun im Zuge von Neuerungen zum sinnleeren Zentrum für das Museum umgewidmet. Die meisten Regale unter der gewaltigen Kuppel waren seit langem leer geräumt, sie beherbergten nur mehr die Erinnerung an Bücher. Mondlicht fiel durch das Opaion und erhellte den riesigen Saal, aber nicht deshalb vermochte Sholl sämtliche Konturen zu erkennen, die Umrisse jedes winzigen geschnörkelten Details. Alles erschien als Schatten auf Schatten gemalt, doch er konnte es erkennen: in dem schwarzen Sonnenlicht, welches der Wesenheit entströmte, die in der Mitte des Raumes hing. Ein dunkler Stern, unsichtbar, jedoch von unentrinnbarer Anziehungskraft, das Auge vexierende Ahnung, die eigenen Parameter insinuierend, und den wabernden, zylindrischen Raum patrouillierend mit der alerten Trägheit einer großen Katze, eines Hais. Der Tiger. Der Fisch aus dem Spiegel.
     
    Seine kalte Aufmerksamkeit griff nach Sholl, der fühlte, wie diese Musterung auch ihm schärfe Konturen verlieh, ihn definierte. Die Haare sträubten sich ihm bei der akribischen Durchleuchtung seines Innersten.
    Er konnte nicht atmen.
    Wirst du mich berühren?, dachte er.
    Genug. Die Anstrengung war groß, als müsste er sich durch Packeis arbeiten, doch er zwang sich, einen Schritt vorwärts zu tun. Die ehrfurchtsvolle Lähmung abzuschütteln. Dies war der Augenblick der Entscheidung. Er war nicht hergekommen, unbewaffnet, um Maulaffen

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