Momentum
wie ich. Erst winke ich ihm mit der zur Schulterhöhe erhobenen Hand, als keine Reaktion kommt, nehme ich den Arm zu einem Winken hoch über dem Kopf. Wir sind doch die Einzigen hier oben. Dann erkenne ich, dass es sich nicht um einen Menschen, sondern um einen hängenden Blumentopf handelt. Als ich den Arm sinken lasse, bewegt er sich aber. Es ist eine Nonne, die sich in diesem Moment vom Anblick der Stadt abwendet. So ist das wohl: Jesu Bräute dürfen nicht winken.
Die Dame am Frühstückstisch neben mir zieht zu jeder Antwort die Nase hoch, schaut dabei indigniert, als sei es ihr Rotz, der sich nicht benehmen könne. Dabei ist ihr Lächeln so mädchenhaft, sind ihre Augen so beseelt, während der noble, weißbärtige, langhaarige Ehemann ihr gegenüber jede Form eingebüßt hat. Sie blickt ihn verliebt an, er sie wie eine Behörde. Und die französische Chanson-Sängerin säuselt sich zum vierten Mal durch dasselbe Lied mit dem klassischen dünnen Chanson-Stimmchen, das mal gerade so in den engen Lautsprecher passt.
Unterdessen doziert der Mann über ein Ingenieursseminar, das er gegeben hat. Er richtet sich weniger an die Gattin als an die Umsitzenden, die ihn überhören. Seine Frau legt ihm dabei ihre Kinderhand auf die Pranke und atmet vor Seinslust mit geschlossenen Augen. Er packt ihre Nase zwischen zwei Finger wie mit der Zuckerzange. Sie zieht hoch, kaum, dass er loslässt, schaut wieder indigniert. Sie kann unmöglich verliebt sein und es ihm verzeihen, dass er es nicht ist.
»Ich fürchte, du machst mir mein Leben schattig«, seufzt sie.
Er flüstert etwas in ihr ausgestrecktes Ohr, aber so, dass ich es erahnen kann, etwas wie:
»Heute werde ich dich mit Gier genießen.«
Die Frau nimmt eine unbestechliche Miene an, die vielleicht schon zum Rollenspiel gehört.
»Noch Dressing?«, fragt sie, zieht hoch, und es klingt, als spreche sie von der Gier.
Am Nebentisch thront der joviale Obertan mit seinem Angestellten. Dieser sagt:
»Ich bin gerade in eine neue Wohnung gezogen.«
»Ich wollt grad sagen: Sie sind doch in eine neue Wohnung gezogen.«
»Ist Erstbezug.«
»Wie: Erstbezug?«
»Da hat noch niemand gewohnt. Mit Garten.«
»Ich wollt grad sagen: Ist doch bestimmt mit Garten, nicht?«
»Ja, mit Garten. Hat man halt mehr davon.«
»Wie, mehr davon?«
»Na, die Kinder freuen sich halt.«
»Ich wollt grad sagen: Da freuen sich doch die Kinder.«
»Und wie!«
»Mein ich doch.«
So reden sie immer weiter und werden mehr und mehr zweie, die sich geduldig flöhen.
In der Nähe des Essens wandelt sich die Sprache. Am gegenüberstehenden Tisch presst der Gast, nachdem er zwei Japanern auf Englisch ausgeholfen und ihnen »Babyseatongue« empfohlen hat, mit hochrotem Kopf konjunktivisch hervor:
»Isch hätt Schweinelendsche!«
An den Tisch tritt der Kellner, als nähere er sich der Kaaba. Weil der Gast mit blasiertem Interesse zu ihm aufblickt, ziseliert er nach einer Pause verschwörerisch den Satz:
»Fischmäßig hätt ich noch Hummer da.«
In der Apsis der Marienkirche in Krakau thront ein Altar von Veit Stoß vor Besuchern aller Nationen. Eine Frau mit Strohhut auf dem in den Nacken gekippten Kopf lässt sich von dem Altar bestrahlen wie von einer Höhensonne. Ein anderer inszeniert mit seiner Videokamera einen langen Gang über die Bildoberfläche dahin. Eine Frau trägt Sonnenöl auf beide Arme auf, blickt zwischendurch prüfend in den Glanz des Triptychons, prüft die Angabe des Lichtschutzfaktors auf der Flasche, dann wieder das Himmelslicht, das vom Altar herniederfällt. Die Frau neben ihr wedelt sich mit der Eintrittskarte Frischluft zu. Eine Italienerin doziert mit gedrosselter Stimme, dabei kurze Wege zwischen den Worten »altare principale«, »molto realistico« und »molto caratteristico« zurücklegend. Eine Amerikanerin in Kniebundhosen verliert den Schraubverschluss ihrer Mineralwasserflasche, staccatissimo hüpft er über den Marmorboden dahin. Mehrere Reisende tragen Kleider in den Floraldessins jener Papiere, mit denen man früher Wandschränke auskleidete. Ein Franzose wiegt sich wie ein Dirigent in den Knien und liest das Schriftband: »Ave Maria Coelorum Virgini et Matri.« Kaum setzt er ab, verharrt sein Blick in der Ratlosigkeit. Nur sein Junge hat profitiert. Ihm hat der Vater einen Plüsch-Goofy in Rosa gekauft, damit Ruhe ist. Mit beiden Händen knetet der Junge das Rosa, verlegen auch er. Weicht man zum Portal zurück, bleibt ein so
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