Momentum
froh, auf der Welt zu sein.«
»Man hätte ja auch danebenfallen können«, erwidert sie.
Daneben. Als Kinder spielten wir gern »Leiche«. Da lagen wir dann verkrümmt, starr, »für tot«, mit verzerrter Grimasse auf dem Teppich, bis jemand hereinkam, sich erschreckte, sich über uns warf und uns mit Küssen bedeckte. Das Leben war nie so genießbar wie in der Wiederbelebung.
»Jetzt geht es weiter«, sagt sie, und es klingt wie ein Satz aus ihrer täglichen Zug-Routine. Ich gebe ihr die Hand und vermeide es, ihren Bikini anzusehen. Wie recht sie hat, denke ich, es ist so ein schöner Tag.
Eine junge Mutter am Strand, rauchend, das kleine Mädchen im Kleidchen an der Hand. Sie nehmen Platz neben einem väterlichen Mann im platten Sand. Mit der freien Hand, die eben noch das Töchterchen gehalten hat, schlüpft die junge Mutter nun in den Hosenschlitz der Badeshorts des Mannes und lacht übermütig, berstend vor Lebensfreude, worauf er unweigerlich begehrlich guckt, das Kind erst den Hosenschlitz, dann das Meer ansieht und anschließend in die Algen läuft, die wie dampfender Dung am Strand lagern, während die Hand der Mutter, deren Blick angewidert über die Algenhaufen geht, verweilt.
Wenn sich das Glück aus der Musik schält in einem Akkord, wenn eine Tonfolge plötzlich persönlich wird im Sich-Verlaufen und Abirren oder in der schönsten Zielstrebigkeit, im Schreiten des Adagios, wenn man nicht weiß, will sie die Peripherie erreichen, überhört werden, ist sie zerstreut wie ein Alter, der die Brille verlegt hat, oder ungestüm wie ein Junger, dem es nicht schnell genug gehen kann, wenn sie gehen, schweigen will, wenn sie ihre Pointe setzt, dann erscheinen in der Banlieue des Bewusstseins lauschende Einzelne, genau so Arretierte: ein Schuster, der seine Arbeit unterbricht und aufmerkt, ein Barkeeper, der in der Bewegung verharrt, eine Frau, die das Taxi nicht verlassen will, ehe die Komposition ihr Argument nicht zu Ende formuliert hat. Und man hebt den Kopf mitten in der Musik und spürt die Gesellschaft aller, die sich in diesem Moment noch versammeln.
Wie bemüht die Dame mit der Korallenkugelkette darum ist, schön gefunden zu werden, erkennt man daran, wie oft, wie fast hektisch sie nachsieht, ob der Blick noch steht, der sie aus der Distanz getroffen hat, und den sie zu kurz für einen begehrlichen, aber doch auch zu lang für einen gewöhnlichen Blick ausgehalten hat, und den sie zu eifrig verlässt, um die Augen wieder durch die Runde ihrer Gesprächspartner schweifen zu lassen mit geheuchelter Konzentration. Auch wenn sie den Mann nicht mögen sollte, der sie beobachtet – es passt ihr zwar gerade nicht, begehrt zu werden, aber es gefällt ihr. Jetzt beugt sie sich in ihrem theatralischen Zuhören sogar so weit vor, dass ihr die Gerbera aus dem Halsausschnitt auf den Marmorboden fällt. Niemand bemüht sich. Als sie sie endlich selbst wieder in die breite Furche klemmt, tut sie es mit Stolz, so als sei die Grobheit der Männer eine Folge ihrer eigenen Unnahbarkeit. Zugleich weiß sie, dass sie gemeinsam mit der Blume nun wieder den Blick des Mannes an ihrem Busen befestigt. Trotzdem nimmt sie es sich übel, so unbeholfen auf seine Aufmerksamkeit reagiert zu haben. Also nimmt sie sich vor, den Betrachter keines Blickes mehr zu würdigen und sich noch ein wenig interessierter dem näselnden Nachbarn zuzuwenden. Es misslingt. Und da sich ihre Augen nun schon einmal in den seinen wiedergefunden haben wie nach einer Abwesenheit, verweilen sie nun sogar ein bisschen länger, gekräuselt von einem Lächeln, das ausschließlich im Blick schwingt. Ihrem. Seinem.
Da steht ihr Nachbar auf, ein fetter, kurzhosiger, watschelnder Spanier, vielleicht ihr Mann, und klatscht dabei seine Hand auf ihren nackten Oberarm. Die kleinen Gesten jahrelanger Verachtung. Ihr ist im selben Augenblick ein rosiger Schauer über die Wangen gelaufen, und sie erhebt sich beschämt, den Träger ihres BH s unter die Spaghettiträger ihres Sommerkleides nestelnd. Plötzlich ist es verpfuscht. Sie geht als Geschlagene. Aber dieses waidwunde Gefühl ist es, das sie im Augenblick ihres Abzugs zum ersten Mal aus der Pose reißt und wirklich schön aussehen lässt.
Einmal kam der Mann, der zu ihren romantischen Zeiten noch der Halbwelt angehört hatte, zu einem abendlichen Essen nicht allein. Eine junge Frau war an seiner Seite. Sie setzte er in der großen Runde des Restaurants zwischen sich und mich. Er trug eine
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