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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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kommen sollen. Wenn die Lampen angehen. Wenn das Essen fertig ist. Wenn ich rufe, und die Stimme über den Sportplatz schallt, und die anderen sagen: »Ich glaube, deine Alte ruft.«
    Architektonische Vorstellung vom Wort. Ja. Man folgt unterschiedlichen Wortgegenden im Wort. Man übersetzt ein plastisches Gebilde in ein Syntagma. Schönes Wort. Schön wie eine Straße in Athen. Am Ende des Satzes ein Loch, auf das man zugeschrieben hat. Vermutlich mit gewechselter Schreibhand.
    Jetzt sitzt ein Rostfleck auf dem Handgelenk. Jetzt wird die Schriftdicke satzbestimmend. Kein Zeitgefühl besteht mehr für das Fließtempo der aufeinanderfolgenden Sätze. Das heißt auch, sie kommen wie Züge, in Intervallen hintereinander durch das Land. Jetzt die Nüchternheit gegen den Rausch zu mobilisieren, das ist ein maskuliner Versuch. Unbescheidenes Gefühl bei »maskulin«. Plötzlich erscheint in dem schon seit sieben Blicken leeren Glas Wein ein Rest Rotwein. Dann ist er weg.
    Stattdessen Schriftspritzer auf dem Handrücken, schwarz und fett. Eine Wahnsinnige, dieser kommende Satz, in einer Regenhaut auf der Straße mit Kopftuch. Als ich diese Frau wurde, um sie ganz schnell abzugeben an meinen Vorgesetzten, hat sie sich böse nach mir umgesehen, als wäre ich plötzlich unklar geworden.
    Aufbäumen des Satzes auf dem Papier, das unter der Schrift plötzlich rosa wird: Aufhören. Aber die Pose sagt: Ausgezeichnete Sätze müssen aufgezeichnet werden, »ausgezeichnet« wie eine Ware mit Preis. Gestern war heute. Die Abende sind durch einen Film verbunden. Weitermachen, gefälligst, aber vom Rausch aus, aus der Unterwelt des Textes, dessen Idee jetzt ganz klar ist. Wieder und wieder seltene Bilder in der Luft. Gedanken durch Worte auflösen. Da waren noch mehrere. Jetzt ist nichts mehr. Jetzt bin ich vor den Kopf gestoßen. Jetzt lange, lange gestarrt in vier Meter hohe Hecken. Vorgartengeräusche. Liz, ich habe es in diesem Leben verpasst, einen Kanarienvogel zu besitzen. Wo war ich?
     
    Im Rausch war ich neulich zwei: ich und meine Frau. Ich legte meinen Kopf auf den Busen meiner Frau und sagte mir selbst, dass das angenehm sei. Später tötete ich Michel Foucault und fand beides gleich furchtbar: dass ich ihn getötet hatte und dass er tot war. Dann legte ich mich hin und träumte zweimal, ich sei in eine Gesellschaft gegangen mit nichts an als einer weißen Unterhose. Im Traum erschien mir das lässig. Erst an den Blicken der Gäste erkannte ich: war es nicht. Als ich den Traum zum zweiten Mal träumte, sah ich an mir herunter und dachte: Nicht schon wieder!
     
    Auf Gleis  13 sehe ich im Dämmerlicht den Zeiger der Bahnhofsuhr stufenlos und zügig wandern. Die Uhr geht ihren eigenen Gang, sie wird unordentlich und legt ein anderes Tempo vor. Beim Nähertreten aber ist es der Arm des Zifferblatt-Reinigers, der im Uhrzeigersinn mit der Hand über dem Kopf gemächlich die Oberfläche wischt. Als die Bewegung eines Zeigers war sie schnell, als die eines Arms ist sie träge. Zwischen den Geschwindigkeiten habe ich gerade Zeit gewonnen.
     
    Sie muss noch das Quiz zu Ende schauen. Unterdessen quittiert sie jeden meiner Sätze, als sei ich ein Bittsteller, denn sie hat diesen grünstichigen, byzantinischen, fast unbeflaumten Körper in die Waagschale zu werfen, und so behandelt sie jeden meiner Sätze, als bewerbe ich mich um eine Liebesnacht. So nicht, mein Früchtchen, ist ihr Habitus. Manchmal wiegt sie einräumend den Kopf, aber ich soll mir bloß nichts einbilden.
    »Es geht also um Sex?«, fragt sie direkt, den Fernseher anblickend.
    »Um die Verringerung des Diskretionsabstandes.«
    Woran ich wirklich denke, das ist dieser eine glückliche Moment der Freizügigkeit, der alles überglänzen kann.
    »Weißt du, wo ich zuletzt geküsst worden bin?«
    »Ich war nicht dabei.«
    »Hier so«, sie reibt sich das Brustbein, zieht zur Verdeutlichung den Halsausschnitt herunter, schaut mit Doppelkinn hinein und präsentiert die Stelle stolz wie das Wirtschaftswunder. Im Fernsehen versagt ein Kandidat gerade an der Frage: »Wie viele Musiker bilden ein Duo?«
    Sie lacht maßlos, reißt den Mund sehr weit auf. Man sieht einen Speichelfaden, an dem ein winziger Tropfen abwärts fährt wie die Gondel einer Seilbahn.
     
    Oft sitze ich in der Bahn zwischen 13 und 14  Uhr, wenn die Schulkinder auf dem Heimweg sind, und werde Zeuge von Romanzen in der Entstehung – manchmal noch bevor die Beteiligten selbst es wissen.
    »Nein«, scherzt

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