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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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vielstimmiges Aus- und Einatmen wie in einem barocken Orgelstück, und die Vögel draußen zwitschern Schnulzen.
     
    Jeden Abend sitzt die Porträtistin am Platz, neben sich eine Zeichnung von Winona Ryder und eine von Rock Hudson. Man möchte ihr sagen, dass heute nicht mehr alle wissen, wer Ryder, wer Hudson ist und war. Man möchte ihr verschweigen, dass jene, die es noch wissen, in den beiden Amphibien auf dem Papier den eigenen liebenden Blick kaum wiederfinden werden. Jeden Abend kommt die Zeichnerin zwischendurch in das Cafe, jeden Abend komme auch ich. Sie hat einen Oberarm voller blutig gekratzter Mückenstiche. Auch der will geküsst werden. Zeichnend verwandelt sie Menschen in etwas, das sie nicht sind. Unter dem Zeichenstift, so wie sie ihn führt, werden die Menschen zu Produkten des bösen Blicks oder der schwachen Begabung. Sie selbst aber erwartet von ihrem Geliebten, dass er mit ihrem schönsten Ich kommuniziere – ein Ort, an dem sie selbst noch nicht war, der aber nach ihrem Empfinden seinen Existenzbeweis empfängt aus jedem Kuss auf ihren blutig gekratzten Arm. Dieser hebt sich in dem Augenblick, als ihr Finger auf einen Jungen in der Gruppe der Wartenden deutet und sie fragend … Aber der Junge, nein, er schüttelt den Kopf: Ich will lieber nicht, und macht, dass der zerkratzte Arm sich senkt.
     
    Angler an der Weichsel vor dem großen nationalen Angelwettbewerb. Bei einem kleinen Zelt in den Auen sind die Pokale schon aufgebaut. Vielleicht dreißig Wettbewerber warten nebeneinander auf abgesteckten Parzellen. Der Fluss steht schmutzig, alle Angler sind ausgerüstet mit gleich mehreren Ruten, Keschern, grünen Plastikeimern und Wannen, verschiedenen Ködersorten und Schatullen mit Blinkern, einem geradezu paramilitärischen Aufgebot. Auf ein Signal schleudern sie ihre Köder hinaus in den Fluss. Alle landen auf etwa gleicher Höhe. Eine halbe Stunde lang zieht niemand einen einzigen Fisch heraus. Der Erste, der dann in seinem bloß phlegmatischen Todeskampf an Land gebracht wird, ist ein sorgsam vermessenes, achtzehn Zentimeter langes Fischchen, dem der Angler, trotz der erbarmungswürdig mickrigen Größe, gleich den Kopf auf die Planke donnert. Die Fischwelt platzt. Der Fischer schmeißt den unbelebten Leib in die Kiste. Aus Tier wird Speise. So träge wie der Fluss dahinzieht, hat da draußen eine einzelne Plastiktüte in gut dreißig Minuten die ganze Parade der Ruten vollständig abgeschwommen. Die Zeit wird elastisch. Ich fühle das Wetter im Mund.
     
    In Vilnius sitzt das Lächeln locker. Die Kirchen erheben sich wie Zapfen aus den buschigen Löwenzahnwiesen mit breitkrempigen roten Hüten samt goldener Spitze. Heute sehnt sich die ganze Stadt nach einer Lage am Meer. Außerdem riecht es schon vor der Markthalle nach geräucherter Wurst, überall, auch über den Gartenmöbeln, den Säcken mit Saatgut, nach geräucherter Wurst. In der nächsten Halle wird dann das rohe Fleisch daliegen wie in einer Badeanstalt. Der ganz zarte Geruch von frisch Geschlachtetem ist zwar in der Luft, führte man aber jemanden mit verbundenen Augen hinein, er würde sie wohl weniger riechen als spüren, die warme Kühle, die von den fettbefreiten, bloßgelegten, schillernden Muskelsträngen in den Vitrinen transpiriert, und aus Gründen, die keiner erklären kann, tauchen hinter der Theke nacheinander Gesichter mit hässlichen Verbänden, verpflasterten Wunden auf.
     
    Man kann in diesem Restaurant-Hinterhof in Riga das Lächeln der Kellnerin mit einem verlegenen Blick in ihren Ausschnitt quittieren, wo der Spitzen- BH seinen durchbrochenen Saum in einem Halbkreis führt und ihr Lächeln von oben auch das meint, den Halbschatten zwischen Bluse und Körper, begleitet von einem sehr langsamen Blues, der aus dem Restaurantinneren in den Hof dringt. Die wahre Attraktion hier ist aber wohl die vom Abblättern der Farben, von Schwamm und Flechten besetzte Hauswand gegenüber mit ihrem Grundton von Altgelb. Im Sommer stehen hier alle Balkontüren offen, Sessel werden herausgestellt, Topfpflanzen und Wäschespinnen auch, die Gardinen wehen, und man kann förmlich atmen, wie die Luft von draußen in den Interieurs ankommt, und wie sie von dort wieder in den Hof schweift, sich der Polstermuff nach langem Sommer mit dem feuchten Atem des Hofes mischt. Manchmal kann man eine Person, meistens eine Frau im bunten Hauskittel, ans Fenster treten oder bloß innen vorbeigehen sehen, und während man isst, dringt man in

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