Momentum
der Alte, der meinem Blick folgt, »das sind nicht mehr die gesitteten Zeiten des ›Händchen halten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken‹!«
Die Choreographie der Gruppen im Zug und auf dem Bahnsteig wird bestimmt von Mode, Accessoires, Requisiten, Jargon und der Blickregie des Heimlichen. Die Zentralfigur ist der Junge, großzügig beleibt und schlurfend. Das soll man ihm als Lässigkeit abnehmen. Das Glück schenkt ihm die Begegnung mit einer lüsternen Frau: das Mädchen mit dem fliehenden Kinn und den rabiat hervorstehenden Brüsten. Sie findet den Großkörpermann erschwinglich und sieht ihn so an. Dahinter schreitet einzeln die Unerlöste mit dem Punk-Grunge-T-Shirt, sie will einen Staatsfeind oder keinen.
Die ganz hinten Nachzockelnden aber, das sind die Sonderlinge, die Langweiligen, die Gutherzigen. Eine wandelt dahin in der Stimmung eines Streichquartetts. Sie will einen Mann, der ihr morgens die Zahnpasta auf die Bürste drückt. Die Zweite wünscht sich ein Baby mit dem Gesicht einer Hausfrau. Der Junge an ihrer Seite sagt gerade: »Seit vielen Jahren sammele ich erfolgreich Bierdeckel.« Ihr Gesicht sucht die Vorstellung eines erfolglosen Bierdeckelsammlers, der immer nur hört: Sie kriegen keinen. Im Gesicht der Dritten hat sich bereits eine Übersättigung eingenistet wie nach der jahrelangen Belagerung durch Unwürdige. Die Vierte befindet sich gerade mitten in einer langen Geschichte, in der sie immer wieder so gut wegkommt, wie man es sich kaum erklären kann. Sie schreit kurz ihren Hund an: »Dass du nicht wieder das Böse machst!« Dann ist sie wieder bei dem Rätsel ihrer Wirkung auf Männer und wiederholt den Refrain ihrer Rede: »Das kommt von mein’ Chaarm.«
Er sitzt mir im Zug gegenüber, der Reisende, der nicht reisen, sondern staunen will. Weil ihm zu Hause das Staunen vergeht, reist er. Er bewegt sich also, um zur Ruhe zu kommen. Dauernd berührt er dabei Zustände, die ihm das Leben schwermachen. In dürftigen Hotels starrt er an die Decke, vom Straßenlärm, von der Musik aus dem Nebenzimmer eingeschränkt. Er liegt da und schreitet die Demarkationslinien ab, die ihm sein Reisen durch den Raum zeichnet. Aber wenn er auf die Straße tritt, kommt es vor, dass er verglückt – wie man sagen können sollte, findet er, wenn man auch verunglücken kann.
»Und?«, frage ich ihn, »wann sind Sie zum letzten Mal verglückt?«
»Ich ging im Mairegen auf die Straße, trug nur meinen Pyjama, und eine Frau sagte ihm Vorübergehen: ›Du holst dir den Tod!‹«
Sie will nicht hell werden, die winterliche Stadt, die sattroten Ziegeldächer gleich unter mir, die ockerfarbenen Fassaden der nahen Stadtpalais mit ihren grauen Fensterfassungen, sie sind noch scharf konturiert. Zur Belebung des Standbildes steigen auch Rauchwölkchen aus den Kaminen und wabern über die Vedute. Aber schon die ersten Bodenwellen, die sich, einen Kilometer Luftlinie entfernt, am Stadtrand erheben, sind grau schattiert. Die Villen an den Hängen ducken sich in den Nebel, und nur das schmutzige Rosa des Morgenhimmels gibt der Hügellinie Profil. Alles steht, die Kuppeln, Kräne und Kirchtürme, die Schlote, die Schornsteine und Baumkronen. Bloß die Flagge hängt schlaff in die Häuserschlucht, und nur ein einziger Arbeiter, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, tief unter mir, nagelt Dachpappe auf einen alten First. Er hat seinen gelben Bauhelm neben sich auf die roten Schindeln gelegt und wischt sich in dieser Kälte die Stirn. Sein hämmernder Arm holt aus bis hinter die Schulter. Er ist die Unruhe in diesem Uhrwerk der Stadt, die einzige Bewegung, das Perpetuum mobile. Mit selbstverständlichem Sachverstand arbeitet er an diesem Dach, mit Eifer sogar, gebückt in ein Mauerstück von Vermeer, und hält ganz allein die Vorstellung von der Innigkeit in der Arbeit aufrecht.
In fremden Städten habe ich, wie ehemals in Glasgow, immer am liebsten unter dem Dach gewohnt, sogar unter der Schräge der Balken, in dunklen Möbeln, mit der roten Tagesdecke über einem Bett wie auf Wallis’ gemalter Elegie »Der Tod Chattertons«. So hoch oben sieht man das Leben nicht, man hört es nur und deutet die Geräusche. Ist Regen gefallen, schneiden die Reifen der Autos das Pflaster, und es klingt wie ein Reißen.
Ein ausdrucksloser Himmel über dem Dächermeer. Menschenleer bis auf den einen Mann, der weit links auf der anderen Seite der Straßenschlucht hinter der Gardine die Firste überblickt
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