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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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sagt: »Das nenn ich die Aufwertung falscher Tatsachen«, ein anderer, zu einer anderen: »Ich bewundere dich: Du bist jung, du bist blond, du liest Belletristik.« Diese Leserin verschwindet mit geöffnetem Buch, lesend in der Menge. Andere und Gleiche, wie aus der Konfettikanone geschossen, Menschen der Großstadt.
    Jetzt bin ich allein mit dem Rentner unter der Baskenmütze. Lichte Gehölze. Die Silberfäden der Birken dazwischen. Das Aufsteigen der Flugzeuge, die den Fabrikrauch mit dem Grollen ihres Fluglärms beantworten und so in die Wolken tauchen. Schrebergärten, der Industrie abgetrotzt zwischen dem Bahndamm hier und dem Bahndamm gegenüber. Der Mensch auf seiner Nutzfläche.
    Jetzt das Aufstöhnen der Türen. Jetzt die schlurfenden Schritte auf dem Bahnsteig, die Schritte derer, die weggehen. Am Ende des Zuges wartet tatsächlich ein Prellbock, am Ende der Strecke wirklich ein Schild: schwarzer Balken auf hellem Grund. Der Schlagbaum zur Vorstadt. Der Zugführer steigt aus. Er redet nicht viel. Bevor er morgens ausgeht, legt er sich einen kleinen Mundvorrat an. Der ist jetzt aufgebraucht. Ohne noch Fragen zu beantworten, schlendert er bis zum Gleis-Ende und blickt hinauf. Der Himmel hat gerade keine Sommersprossen.
     
    Nach der Lektüre ihres handgeschriebenen Briefes aus dem Fenster des Zugs gesehen, das alte Ziegelmauerwerk mit den sprießenden Gräsern betrachtet, »heikel« gedacht, »kühn«, »prekär«, berührt gewesen, animiert, Schritte in ein unvordenkliches Gelände zu tun. Werden. Nicht zurückzucken. Entstehen, nicht aufhören, wo andere aufhören würden. Die Spitzen ihrer Ellbogen sind rau wie Toastbrot, ihre Fingernägel unregelmäßig geschnitten. Die Spuren der Verwahrlosung sind es, die mich an das Ringen in ihrem Leben erinnern. An dieser Stelle beginnt unser gemeinsames.
     
    Bevor man, aus Hamburg kommend, mit der Bahn in den Tunnel zum Berliner Hauptbahnhof einfährt, kommt man durch ein wüstes Landstück, wahre Brache mit verrosteten Schienen, Mauerstücken, Wildwuchs. Die temperierte Luft aus dem Tunnel streift das Gras auf den Ruinen und verflüchtigt sich. Einmal stand hier im Dunst ein Pfau, einmal und nie wieder.
     
    Verwahrloste, zum Teil verfallene und aufgegebene Wohnhäuser, bei denen die Spatzen ein- und ausfliegen. Fassaden mit Schuppenflechte. Sie pellen sich, werfen Verputz ab. Mitten in diesem Verfall pflegt ein Arbeiter das Rondell in der Grünanlage so säuberlich, als handele es sich um eine Goldschmiedearbeit, und fast wird dieses Stück skandalös, die Ordnung anstößig in der Turbulenz des Zerfalls. Denn während das Fernsehen Vergessen produziert und das Design Nicht-Gemeintes und die Architektur etwas, das übersehen werden will, während sich also alles ins Verschwinden dreht, damit man post-apokalyptisch sagen könnte: Da war nichts mehr, sind das Rondell und der Satz vom Rondell Fixpunkte, Manifestationen wie die Geste der jungen Türkin im Postladen, die ein neues Parfüm ausprobiert hat und mir ihren Arm hinstreckt: »Vanille und? Na, riechen Sie es? Würden Sie es nehmen?« Und ich senke das Gesicht auf den schmalen, braunen Frauenarm, schließe die Augen, überschwärmt vom Aroma im Überhandnehmen der Unordnung, und »Ja«, sage ich. »Nehmen!«
     
    Blauen Rauch ausgestoßen. Riesige Landzungen von Schrift durchquert, ohne sie zu lesen oder zu schreiben. Der Heroismus am Rande des Rauschs, das ist: den Anfang des Gedankens festzuhalten wie einen Rockzipfel. Dem Lippenschwung gefolgt, über die Kontur des Gesichts hinaus, komische Einfälle abgelehnt, eine Entscheidung versucht, ein Urteil, ohne zu wissen, worüber, denn ich verliere gerade, mitten in der Zeile, den Faden, weiß nicht mehr, ob der Restgedanke noch zum begonnenen Satz gehört oder zu einem inzwischen nur in einem Nebenraum des Geschriebenen gedachten.
    Grüne Flecken auf dem Handgelenk. Punkte und Kommata missverstehen sich in der hermetischen Organisation der Buchstaben- und Silbenordnung. Der Rausch produziert gerade nur räumliche Vorstellungen. Die Oberlider werden fühlbar, vertraut wie Fensterläden. Musik, das sind zu viele Töne. Außenansicht der Worte »kausal« und »logisch«. Plötzlich ist der Umkreis rund ums Blatt Papier eine piekfeine Gegend. Rückweg des Gedankens zu den während der Schriftfahrt stehengelassenen Gedankensplittern. Manche sind inzwischen Findlinge. Alles doppelsinnlos. Ich schreibe wie vor Jahren geschrieben. Die Worte wissen genau, wann sie

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