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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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perfekter, aber auch immer verlassener. Manchmal sitzen sie jetzt allein im Lokal und sehen so schmachtend vor sich hin, als gebe es in ihrem Leben etwas, das diesen Ausdruck verdient hätte. Aber da ist nicht einmal ein Hund, nicht einmal eine Handtasche oder eine Heimwehzulage, und gibt es nicht Mädchen, die schon mit achtzehn Jahren anfangen, ihre Jugend zu spielen? Sie werden Frauen, die erst dulden, dann geht das Dulden in das Begehren über. Dann haben sie alles erreicht, lassen ab, finden in ein neues Dulden, und am Ende hat das Leben aus einer Handvoll unüberschaubarer Gefühle ein Haschee gemacht. Eine solche Frau, eine, die mit Anstand kapituliert hat, vertraut mir an:
    »Mein Mann liebt mich nicht. Als er mich zum ersten Mal ins Bett nahm, war er was? Ein Kitz? Nichts war an ihm, das nicht gewesen wäre wie ein junges Tier, das in seiner Zärtlichkeit nicht abgebrüht ist, sondern bedürftig. Jungtiere drücken ihre Liebe noch aus, als sei sie lebensnotwendig. Zwanzig Jahre später ging er allein hinter den Busch. Es dauerte drei Minuten, und er war von der lästigen Heimsuchung befreit. Am Sex, hat er mir erklärt, ist mir einfach zu viel Körper. Und ich erwartete ihn immer noch mit flatternden Schenkeln.«
    »Wie der flugunfähige Wellensittich auf dem Kletterbaum.«
    »Wenn mein Leben so weitergeht, macht es mich nervös.«
    Das kann ich verstehen. Mit jeder Veränderung der Farbe oder der Form einer Frucht oder Blüte zieht sie andere Tiere an.
    »Im Kino«, sage ich, »machen sich die Liebenden die Geständnisse gern im strömenden Regen, damit wir begreifen: Die Leidenschaft ist stärker als der Wunsch nach Komfort.«
    »Ja«, erwidert sie. »Im Leben stellen wir uns unter.«
     
    Zum ersten Mal besucht mich das Mädchen mit den dicken schwarzen Haaren, die, wie ich mich erinnere, einen animalischen Geruch ausströmen, je tiefer man in sie dringt, Richtung Grind, Talg, Schädelknochen. Ihr Vorbild sind Frauen, die einmal am Tag mondän sind. Sie kommt am Vormittag.
    »Komm«, sage ich, »setzen wir uns.«
    »Ich hasse Stühle«, erwidert sie und lagert sich gleich auf den Boden, vielleicht um etwas Merkwürdiges zu tun. Ich besitze eine Plastikflasche Genever, indonesische Nelkenzigaretten mit gezuckertem Mundstück, Kaffeebonbons aus Thailand, ein afrikanisches Lakritzholz. Wir trinken uns schnell heraus aus dem Tag, legen Patiencen, »Russischer Gefangener« vor allem, die »Hochzeit«, die »Zank-Patience«, wir ändern die Regeln nach dem Diktat des Rauschs. Wir lieben uns nicht, in keiner Bedeutung, aber wir benötigen einander, seit wir so verrutscht sind. In der Abenddämmerung finde ich in ihren Zügen den Ausdruck eines grandios gescheiterten Gesichts, eines, dessen Scheitern seine Intelligenz ist. Ich kann mich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein, aber in der Nacht hebt sie den Kopf vom Teppich, und ihre dicken Haare atmen aus, während sie fragt:
    »Wer wären sie?«
    »Wen meinst du?«
    »Alle diese Menschen, die wir sind, wenn man uns rechtzeitig entgiftet hätte.«
     
    Am Abend sitze ich großväterlich mit der wollenen Decke über dem Schoß, staple ein Sortiment von Büchern, das ich mir in dem fremden Haus am See zusammengesucht habe, und beginne sie zu lesen, eines nach dem anderen, jedes so lange, bis es sich wegdreht. Ich vergesse über der Lektüre, dass mir heute Abend meine Freundin am Telefon betrunken den endgültigen Abschied gegeben hat. Sie hat so recht. Ich schneide mir Äpfelchen wie ein Rentner, die entfernten Kerngehäuse auf eine Untertasse legend.
    Anschließend bin ich durch einen von den Bauern angekokelten Wald gegangen, habe mich mit dem Rücken auf den Boden hingestreckt und mir zwei Kastanien auf die Augenlider gelegt. Da wird der Wald gleich stimmhafter. Die Bauern haben einige der brandgeschwärzten Bäume schon gefällt. Die Stämme drehen ihre saftigen Schnittflächen ins Licht, es riecht nach nassem Rauch, und wenn auch an manchen Stellen schon Schnee liegt, glitzert ganz frühlingshaft unten der See. Ein Vogel schaukelt über dem Bach, als hinge er am Faden, es liegen auch Federn im Gebüsch, und es duftet immer noch kalt. Da bin ich froh, nicht allein, vielmehr alleingelassen zu sein. Am Abend fliegen die Bücher auf und heben sich in die Luft, und ich lese, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, von den Unterseiten der Flügel.
     
    Ein Flugzeug, das den Nebelregen unter sich lässt wie für immer. Das Erlöschen der Anschnallzeichen setzt Bilder

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