Momentum
in Bewegung: der schlendernde Gang der Afrikanerinnen; die rotgeränderten Augen der Alten, die ihr Profil jetzt in eine illustrierte Postille taucht; die asiatischen Geschäftsleute in den knappen Konfirmandenanzügen; die Frau, die aus der Toilette kommt und sich mit der Linken das Geschlecht richtet wie ein Mann; ihr Gatte, der behauptet, dass der Wind die Wolken mit Nebel flickt. Ich bleibe beim Lächeln des Himmels über der Landschaft. Man kann es sich amüsiert, man kann es sich verliebt vorstellen. Man kann sich etwas vorstellen und taumeln zwischen dem Hier und dem Anderswo.
Beim Landeanflug verfolge ich den Schatten des Flugzeugs erst auf der Wolkenbank, dann über der Landschaft. Wir kommen über Wiesen und Äcker. Und doch scheint unser Schatten starr. Ich erkenne, dass das Fahrwerk nicht ausgefahren ist und wir gerade ohne Räder der Landebahn entgegengleiten. Plötzlich hat die Reise kein Ziel mehr, sie steht in diesem Bild. Wir sind fast am Boden, als die Maschine von einem Impuls erreicht wird, dröhnt und die Spitze hebt. Jetzt schauen wir wieder himmelwärts.
Unter dem bewaldeten First der nächsten Berge des Himalaya streckt sich der See in Schlaufen. In den alten Resten von Mauerwerk Halbstarke, Liebespaare, die zur Allegorie des Liebespaars vereint unter einem Regendach lagern, kühne schmale Knaben, die in Kopfsprung-Formationen in das trübe Wasser hechten. Am Ufer die zum Trocknen aufgehängten Leibchen im sanften Regenfall – eine Idylle, aus der vorgestern zwei Ertrunkene gefischt wurden, Fremde, die nach dem Vorbild der heimischen Jungen kopfüber ins Wasser gesprungen waren, sich aber in den Fischernetzen und Algen verfingen und nicht mehr an die Oberfläche kamen. Im Wasser liegen die Kähne in Altgrün, Altrot, Altgelb und Mattblau, aufgereiht wie Barken auf dem Styx, aber so lange die Toten nicht bestattet und für uns noch immer da unten sind, sticht kein Bug in See und bricht den schwarzen Spiegel des Wassers.
Um fünf Uhr in der dunstigen Morgenfrühe aufgestanden, über die abgeschabten Planken des Klosterbodens ins Freie getappt, zu den Goldwäschern am Fluss geschlendert und zugesehen, wie sie die Köpfe über den Schüsseln zusammenstecken, mit spitzen Fingern durch den schwarzen Schlamm buchstabieren, während die kleinen Mädchen die Ochsen im Wasser bürsten. Aber das Schnaufen und Rufen klingt noch gedämpft. Am Hang wacht über den Büschen das schneeweiße Gesicht eines steinernen Götzen, halb Mensch, halb Raubkatze, und dahinter, in dem alten, hölzernen Kloster, wandeln, orange und rostrot hingetuscht, die barfüßigen Mönche. Während sie eben ihr Klingeln und Beten aufnehmen oder, schweigend unter den hölzernen Arkaden kauernd, heilige Schriften studieren, steckt sich die junge Lastwagenfahrerin unten an der Straße eine dicke grüne Zigarre in den Mund und lächelt den ersten Fahrgast an mit Zähnen, die im roten Sputum der Betelnuss-Spucke schwimmen. O happy day!
In einem tibetischen Flüchtlingslager im Norden Nepals stimmen sie die Felltrommel an, die Sanduhrtrommel, die Schädeltrommel, die Naturtrompete, verschiedene Knocheninstrumente, schließlich die Stielhandglocke, mal im Ensemble, mal, hingerissen von der kultischen Bedeutung jedes einzelnen Klangs, isoliert und virtuos, als müsse im Irrwitz der Kakophonie irgendwo genau die Tonfolge erklingen, die die Götter weckt. Dann dröhnt der Buckelgong, die Klappertrommel, das Membranophon, angestimmt für das weibliche Prinzip, die umfassende Weisheit und, wie die Tibeter finden, die »Leerheit«.
In den ersten Reihen hat der Ältestenrat Platz genommen, dahinter sitzen alle Flüchtlinge, die gekommen sind, jene anzusehen, die anreisten, um, wie der Sprecher des Rates sagt, »our sufferings« zu schauen und das Bild davon in die Welt zu tragen. Da sitzen wir also auf einem Podium mit dem Gesicht zum Saal, ernst und zugewandt, während der Repräsentant des Lagers psalmodiert:
»Wir haben keine Papiere, wir können nicht reisen, keine Arbeit annehmen, kein Land bestellen, nicht einmal ein Motorrad kaufen oder einen Taxischein machen. Selbst wenn wir hier geboren sind, dürfen wir all das nicht tun, was ein Bürger auf der untersten Stufe seiner Rechte tun darf. In unseren Adern läuft das Blut heiß, wir sind Weltenbürger und leben als menschliche Tiere …«
Eine Frau in der hintersten Reihe gähnt, während die Ausmalung des Unglücks sich immer weiter verdüstert. Sie hat nun von ihrem
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