Momentum
wieder?«
Er wendet sich wieder der Frau auf dem Plakat zu, steht auf der Höhe der Muschel, schaut den Bikini-Körper, den Strand entlang und sagt:
»So geht Glück nicht!«
Er ist im Verhältnis zur Welt ringsum gerade der Vernünftigste.
In ihrer rechten Leiste sitzen drei tätowierte chinesische Schriftzeichen. Die bedeuten was?
»Friede«, sagt sie.
Heißt das, jeder, der sich ihrer Scham nähert, soll seinen Frieden finden? Ausgerechnet! Soll vorher seinen Frieden machen? Und was ist mit der Aufregung, der Rastlosigkeit, der heidnischen Sünde und der Lust am Frevel? Auch in der linken Leiste wimmelt es von Zeichen. Es ist wie französische Gartenarchitektur: Alle Statuen gestikulieren durcheinander. Alle wollen, alle bedeuten etwas und machen zu viel. Es ist die Übersetzung der Soap Opera in Körpermalerei. Hat einer Kopfschmerzen, packt er sich an beide Schläfen, redet er über Zukunft, richtet er den Blick zum Himmel, ist er Arzt, wäscht er sich die Hände und stellt ein Rezept aus. Und das soll ich nun in ihrer Leiste entziffern? Beherzigen sogar? Wer so weit gekommen ist, dass er dies lesen kann, der sollte es besser nicht mehr verstehen wollen.
Wie verstörend das Hässliche doch wirkt in der Gestalt des Hübschen. Sie schaut nun herab auf den Leser ihrer Leiste und ist gerade auf diese Weise hübsch mit ihren aggressiv aufragenden Brüsten, den schmalen Lippen, den in der Anstrengung leicht schielenden Argusaugen, jetzt, da ausgerechnet durch meinen ratlosen Blick über die tätowierten Leisten das Ferment der Anziehung freigesetzt wird, das Vage-Werden.
Wenn man in den USA um 5 Uhr 30 aufwacht, dann predigen im Fernsehen die Handelsvertreter Gottes, die Evangelisten mit ihren Headsets. Ich kann meine Augen nicht wenden von einer weißblonden Mittfünfzigerin, die sich offenbar Grundzüge des Bühnen-Entertainments angeeignet und gelernt hat, kleine, milde Lacher einzuflechten. Diese Pointen sind das Weltliche in ihrer Rede, weshalb sie das Schmunzeln im Saal dann auch mit einem toleranten »Wir-sind-alle-Menschen«-Lächeln quittiert. Ihr Gesicht aber bleibt dabei faszinierend kalt und scharf. Zwischendurch verläuft sich diese Rede allerdings in Satzbrüchen, Agrammatismen und Gestotter, als habe Gott seine Hand temporär von ihr abgezogen. Die gute Rede darf nie stolpern, nie unfertig scheinen, man glaubt ihr nicht, wenn sie es nicht einmal schafft, sich die Grammatik zu unterwerfen. Die gute Predigt muss geoffenbart wirken.
Ich gehe auf die Toilette, komme zurück, inzwischen wird ein Wunder gegen Gesichtsbehaarung empfohlen. Als unglaubliche Monstrosität fungiert hier eine stämmige Australierin, deren Vergangenheit mit einem Bild dokumentiert wird, auf dem sie einen teils buschigen, teils schütteren Kinnbart trägt, dem Arafats nicht unähnlich. Im Interview ist sie überwältigt vor Freude, was sich darin äußert, dass sie ganz leise und demütig spricht, und tatsächlich ist ihr Kinn dabei blitzblank. Die Enthaarungsmethode allerdings bedient sich bloß eines klebrigen Streifens, den man auf das Kinn bringt und zügig abreißt. Da sind sie nun, die leise Stimme der Euphorie über »das Wunder« und »das Wunder« selbst, ein haariger Klebestreifen, einem alten Fliegenfänger verwandt.
Erst denke ich, ich sei noch in der Predigt und das Wunder meine ein kosmisches. Es ist aber bloß ein kosmetisches. Doch nicht zufällig sieht die Australierin aus, als sei sie für beide gleichermaßen empfänglich.
Die Frau lebt auf dem Waden-Tatoo ihres früheren Liebhabers fort. Während jeder unverhohlen in die von dort in die Welt gehenden Augen starrt, weicht man ihrem Blick im Leben lieber aus, bleibt doch ihre Realität hinter der Schönheit des Bildes immer weiter zurück. Genauer gesagt: das Bild erblaut wie ein altes Foto, wird aber Ikone, die Frau verbleicht, wird aber real in dem uninteressierten, vom Nichts inspirierten Blick. Einmal habe ich gesehen, wie sich die Augen der beiden Verflossenen trafen, und sie konkurrierten.
Ehefrauen, lebenslänglich gefangen im Damenprogramm: Sie sehen ihren Gatten schwärmerisch an, einmal, weil sie ja ehemals wirklich so schwärmten, dann, weil andere gerade zusehen, schließlich, weil das eigene Gesicht aus Bequemlichkeit in diesem Ausdruck der Bewunderung stehengeblieben ist. Es ist auch leichter, denn so können die Ehefrauen, während sie dies Gesicht machen, an etwas anderes denken. Mit den Jahren wird die Pantomime immer
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