Momentum
Ich glaube, morgen bin ich krank, und umarme sie wie einen Kubikmeter Schaumstoff. Was uns gelingt, gelingt uns nicht in der Sprache. Ich sage:
»Du hast so schöne Gliedmaßen.«
»Danke«, erwidert sie, »aber was war das noch mal: Gliedmaßen?«
Ein andermal weiß ich mich in meinem Überschwang nicht zu lassen.
»Es ist so schön mit dir«, sage ich, »so schön.«
»Warum?«
»Du bist so …« Ich suche, ihre Züge trüben sich ein, weil ich überhaupt suchen muss, »so ein …«
Sie zieht die Brauen hoch: »… so ein was?«
Ich fühle meinen verlorenen Posten, treibe auf See: »So ein Individuum.«
Sie stimmt ein langsames, hohnlachendes Crescendo an:
»Danke, das ist ja herrlich, ein Individuum, er sagt, ich bin ein Individuum …«
Besonders ergreifend ist immer die kleine Feierlichkeit vor dem Kuss. Wir küssen uns ohne diesen Ernst. Ich sage:
»Unsere Lippen passen zusammen.«
Sie erwidert: »Meine Lippen passen auf alles.«
Stand vom Tisch auf, schweifender Blick über eine halbkalte Tasse Kaffee, einen Taschenkalender, einen Theaterprospekt, eine Werbung. Kein Obst in der Küche, Ermüdung. Ein Arbeiter gegenüber, in der roten Weste an einem geöffneten Kasten arbeitend. Zum Schreibtisch zurückgekehrt, provisorisch über den Papieren gehangen. Hinaus in den Flur gegangen, eine Postkarte am Boden gefunden, darauf die gravitätische Vorbeißer-Physiognomie eines Königs. Vor die Tür getreten, gerade rechtzeitig, um die ersten Tropfen zu fühlen, die wie verlangsamt aus dem Einerlei des Himmels fielen. Die ausgestreckte Hand hineingehalten, glücklich. Denn jetzt wird sie auf ihren flachen Schuhen über den Bürgersteig kommen, laufend, die schmale Silhouette in dem elegant-lässigen Regenmantel verhuscht. Sie wird sich im Eingang schütteln, ihre nassen schwarzen Haare striegeln, kein Auge für mich haben, und ich werde sie im Duft des Regens, in ihrem Zappeln und Hecheln, in ihrer Unaufmerksamkeit inmitten dieses wie ein Konfettiregen daherkommenden Schwarms unbemerkt wärmer umarmen als heute früh, als sie das Haus verließ und in den Regen hinein sagte:
»Es sind noch ein paar Tränen im Bett.«
Wie kann das sein: Ich komme im Sommer in ihr Zimmer. Sie kniet am Boden vor ihren Regalen im kurzen Rock und sammelt aus alten Büchern getrocknete Blumen: Akelei, Anemone und Wicke. Sie sammelt sie selbstvergessen auf ihrem linken Oberschenkel, dessen kraftvolles Rosa die pergamentene Trockenheit der Blütenblätter unterlegt, die auch wirklich ein Lufthauch aus der geöffneten Gartentür anhebt und bewegt, ohne sie fortzutragen, zitternd wie Mottenflügel.
Wenn man in der Geschichte den Einzelmenschen erhaben dachte, malte man ihn überlebensgroß, errichtete ihm Denkmäler, geleitete ihn mit Märschen. Heute sind die Möglichkeiten, einen Menschen in die Erhabenheit zu heben, vielfältiger und allgemeiner. Die Musikvideos stellen ihn in die Naturgewalten, überblenden sein Bild mit Wüstenstürmen, Feuersbrünsten, dem tobenden Ozean, sie lösen ihn aus der Verhaftung an die Erde, lassen ihn fliegen, befreien ihn aus der Gravitation.
Der Greis, der vor der Fensterfront eines Medienmarktes in die Auslage starrt, sieht auf hundert Monitoren dem Sänger auf dem Felsvorsprung über dem Canyon zu, wo der Wind das flatternde Wams bläht und die ausgebreiteten Arme sich einem Lebensgefühl öffnen. Der erhabene Mensch erlebt seine Glorie, während er verschwindet. Der Greis vor dem Schaufenster dagegen stößt die Fäuste in seine Manteltaschen und redet in den stummen Raum. Er ist, in diesem Augenblick, als Allegorie der nicht bildfähigen Welt, des Lebens in der Differenz, der eigentlich Erhabene.
Ein Obdachloser vor dem Plakat einer Frau, die im weißen Häkelbikini am Strand liegt und an einer Muschel lauscht. Auf der Höhe ihres Gesichts spricht er sie an:
»Was muss ich über dich wissen?«
Sie lauscht. Offenbar wirbt sie für etwas, das im Bild nicht zu sehen ist, aber wer kennt schon den Unterschied zwischen Lotion, Emulsion und Bodymilk? Er wandert abwärts zu ihren Beinen, sieht sich ihren Schoß an, schlendert wieder auf Brusthöhe und fragt:
»Und? Was muss ich wissen?«
Vielleicht lebt sie im Speckgürtel von Warschau, von Minsk oder Kiew, hat heute Morgen weißes Rührei zum Frühstück und einen Saft aus Orangenkonzentrat. Ein Wagen fährt vorbei mit der Aufschrift »Schwangerschafts-Elektronik«. Der Mann dreht sich um:
»Und was ist nun das schon
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