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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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schmerzverzerrten Gesicht, Haar auf Gras.
     
    Dass die Belgierin Tia Hellebaut im Olympischen Finale des Damenhochsprungs die Kroatin Blanka Vlašić zwar habe schlagen, ihre Jahresweltbesthöhe aber nicht habe erreichen können, wird zugunsten der schönen Favoritin Vlašić im Text angemerkt. Aber erst als über die bösen Blicke der Frauen, die bösen Blicke von Vlašić gen Hellebaut, auf der Pressekonferenz der Satz fällt, Vlašić habe das Zeug, den uralten Weltrekord der Bulgarin Stefka Kostadinowa vom 30 . August 1987 einzustellen, und als zum Namen »Kostadinowa« vor meinem inneren Auge das welke Gesicht einer osteuropäisch Strengen erscheint, mit starken Knochen und einer dunklen Warze auf der linken Wange, da ist das poröse Hochplateau dieser Warze plötzlich umschwärmt von den Bildern der damals noch rothaarigen, pausbäckigen und staksig anlaufenden Blanka Vlašić, die inzwischen die Favoritin und Weltmeisterin ist, heute aber dennoch die Gesichtswarze einer alten Bulgarin brauchte zur Wiedererweckung der Welt des Sieges und des darin eingeschlossenen Glücks.
     
    Die Stabhochspringerin mit dem hauchdünn gezeichneten Gesicht, den Segelohren, dem Babyteint führt ihr Selbstgespräch mit flüsternden Lippen, grimassierend neben dem Griff-Ende des Stabs. Sie läuft in schwarzen Schuhen an, die wie orthopädische Gehhilfen an die Ausläufer ihrer schmalen Beine geknetet wurden. Sie springt ab, ihr Körper streckt sich in einem Sehnen, einem Gieren nach Höhe, nach Lösung aus der Gravitation. Wenn Zigaretten, Küchengeräte, Schokoriegel in den Weltraum schweben können, warum nicht sie? Ihr Knie, ein Kinderknie, das von Stürzen aufgeraut wurde, touchiert die Latte, die ein bisschen nur ins Torkeln kommt. Doch schon auf gleicher Höhe nimmt das Gesicht der Springerin einen Ausdruck an, als lege sie ihren Kopf ins Kissen, um zu schlafen, und in diesem Schmiegezustand lösen sich ihre Züge in eine Freude, die noch nicht Euphorie ist, sondern Genugtuung, Behagen, Wohlsein. Hier, noch in der Luft, eingeschlossen in die Atmosphäre des Augenblicks, will sie eigentlich sein, vor dem Applaus, vor dem Wandeln auf der Erde, vor dem Gesicht-und-Geste-Machen und Jubeln.
     
    Die philippinische Taxifahrerin fährt ein Gesicht durch die Stadt, von dem sie weiß, dass es einmal schön war. Darin ist beides: das Glück darüber, mit einem schönen gelebt zu haben, das Bedauern darüber, es nicht mehr zu tun.
    »Meine Nase«, sagt sie, »stammt noch aus jener guten Zeit«, und demonstriert diese angehobene, verschlankte, mit einem anständigen Rücken ausgestattete Nase. »Die stammt aus meinen lebenden Jahren.«
    Sie sagt auch: »Heute bin ich Witwe, ich muss arbeiten. Meine Tochter ist siebzehn, und ich fahre siebzehn Stunden täglich.«
    »Wenn sie 24 ist, werden Sie den ganzen Tag fahren?«
    »Lieber wäre ich Kassiererin oder Serviererin oder so was. Aber das geht nicht.«
    An der Ampel legt sie den Kopf in den Nacken wie zum Sekundenschlaf. Es ist zwei Uhr früh.
    »Sie sollten schlafen.«
    »Gut«, sagt sie. »Am Flughafen gibt es eine Garage, wo ich im Wagen ein paar Stunden schlafen kann. Da falle ich nicht auf.«
    »Sie werden die schönste Nase der ganzen Garage haben.«
    »Ich weiß. Und noch immer erinnert sie mich an meine lebenden Jahre.«
     
    Die japanische Bedienung eines deutschen Sushi-Restaurants zum Geschäftsmann:
    »Setzen Sie sich!«
    Er: »Was soll diese imperatorische Rhetorik?«
    Sie blickt ihn an. Jedes Tier zittert um sein Leben, keines tritt auf die Lichtung und bangt nicht um alles. Ihr Gesicht ängstigt sich, als müsse sie noch heute das Land verlassen, ihr Leben retten.
     
    »Was hast du da?«
    »Da ist nichts.«
    Ich streife über die Glätte ihrer Stirn oberhalb der Nasenwurzel, wo früher die lotrechten Falten waren, die sagen wollten: Mit mir ist auch nicht immer gut Kirschen essen. Ich muss mich konzentrieren. Ich sehe nicht so scharf wie früher.
    Sie sagt: »Ich habe eine neue Haut.«
    Ich fühle sie im Solarplexus, beuge mich vor, damit sie mein Gesicht nicht sieht, suche in ihrem Haar nach ihrem Parfüm: Was ich finde, ist in der Sommerhitze ein Duft wie von kaltem Wasser. Der Duft war die Temperatur.
    Ich sage: »Dein Haar ist kühl.«
     
    Sie geht, angezogen vom trüben Licht, ins Bad.
    »Ich will dich kennenlernen«, sagt sie und tritt vor meinen Medikamentenschrank, alles genau inspizierend, dann:
    »Stirbst du früh?«
    Ich denke an einen Sterbenden, der sagte:

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