Momentum
Leiden so oft reden hören, dass selbst sie es nicht mehr fesselnd findet. Als ich sie anblicke, lacht sie ertappt und schlägt sich beschämt die Hand vor den Mund. In ihrem Lachen ist auch das Interesse der Welt weitergezogen. Wohin? Es ist jedenfalls nicht das Leiden, es ist das Weiterziehen, das wir gerade teilen.
Eines Tages ist der Junge Lollong mein Begleiter. Er hatte in einem Überlandbus an meiner Seite gesessen, sein Kopf war im Schlaf auf meine Schulter gefallen und geblieben. Jetzt greift er, wenn ich esse, in mein Essen und besorgt sich das Gewünschte. Er geht an meiner Seite, betrachtet, was ich betrachte, und bleibe ich bloß stehen, steht er auch und blickt mich an. Zwei Tage lang spricht er nur durch Zeichen. Ich habe ihn für einen Gehörlosen gehalten, am dritten Tag aber hat er plötzlich Worte, doch nur solche, die ich nicht verstehe. Manchmal hat er mit einem weichen, abwesenden Lächeln unter seinem dunklen Schopf in die Ferne gesehen, mir dann wieder einen langen beharrlichen Blick direkt in die Augen geschickt, den er erst ganz langsam in einem Lächeln aufweichte.
Sein Blick ist ungerührt, er insistiert so lange, bis er zu einem Resultat gelangt ist, dann schweift er weiter, oft nach innen. Manchmal kehrt er zurück. Dann wirkt er zärtlich.
Einmal knackt er auf seinem nackten Kinderknie eine Nuss. Ich frage Menschen, wer er sei. Niemand hat ihn je gesehen. Einer meint etwas zu wissen, legt zur Erklärung die Handkante parallel zur Stirn. Ich verstehe das Zeichen nicht.
Ich verstehe Lollong nicht, der einen Tag lang weg ist, dann plötzlich in einem Restaurant hinter der Scheibe sitzt und mir winkt. Als ich ihn nach seinem Alter frage, malt er sieben Zahlen auf das eigene Bein. In der Nacht schläft er auf meinem Bett, am Fußende eingerollt wie ein Haustier. Einmal hat er im Traum nach meinem Fußgelenk gegriffen und es festgehalten. Ich wurde wach, er nicht, er hielt meinen Fuß und steuerte damit einen Weg durch den Traum. Nicht unheimlich wirkte das, sondern bedürftig. Jeden Tag sagt er mir auf seine Weise, dass wir zusammengehören, vergleicht uns, die Länge der Hände, die Wölbung der Muskeln, die Schattierung des Teints.
Einmal kehrt er nicht zurück. Ich müsste jetzt abreisen. Ich kann nicht. Einen Tag bleibe ich. In den Läden, in den Gärten suche ich ihn vergeblich. Einen weiteren Tag bleibe ich noch, warte nur. Er taucht nicht auf. Ich sitze im Bus. Er erscheint nicht wieder. In den nächsten Wochen werde ich mehrfach meinen, ihn zu sehen oder glauben, begleitet zu sein, unter seinem Blick zu reisen. Einmal habe ich in der Nacht die Augen aufgerissen, wie in der Umkehrung der Gebärde, mit der man einem Toten die Augen schließt, und der erste Gedanke war diese Frage: Lollong, wo bist du jetzt?
Eine Gegend wie ein beflaumter Stein, unfähig zu schimmern, Licht zu fangen, zu reflektieren. Das mit Blech verkleidete Geländer ist so glatt, dass selbst die Möwe auf ihren hohen roten Lackstrümpfen abrutscht. In ihrer Unbeholfenheit ist sie menschenähnlich.
Die eine Vorbeiwandernde sagt gerade: »Ja, wo sind wir denn!«
Die andere bestätigt: »Ja, wo kommen wir denn da hin!«
Sie müssen beide lächeln. Das schönste Lächeln war immer das vorbeifliegende. Der Hunger auf mehr Leben entstand immer, wo sich eine andere Existenz in ihrer Flüchtigkeit zeigte und nichts zu halten war vom Kunstwerk des Augenblicks.
Wir laufen in eine Bergspalte hinein, folgen einem Bachlauf zwischen tauendem Schnee und tiefen klaren Wasserbecken. Wir kommen in ein Dorf. In der Bar mit den alten, von den Rändern her erblindenden Spiegeln und dem Barmädchen mit dem Doppelkinn sitzen Männer jeden Alters. Sie strahlen etwas Elegisches aus. Vielleicht entlastet es sie, dass sie ihr Leben in der Bergspalte gelangweilt leben. Schließlich ist dies auch ein Lebensgefühl, das dem Eindringling Platz lässt, Platz für eine unreife Abenteuerlust etwa, die nach chinesischen Hochgebirgen verlangt, nach nächtlichen Flughäfen, nach verschlafenen Rezeptionisten ohne Fremdsprachenkenntnisse, nach staunenden dunklen Augen, nach russischem Großstadtlärm, nach Wüstenwind, nach einem Vogel, der von Gerüchen lebt, nach einer großen Auswahl von Gesichtern, nach leidenden Landschaften, nach den kleinen Vögeln in den Pappeln von Rheydt. Und ich öffne die Illustrierte und lese, dass in Heuschreckenschwärmen die nachfolgenden Tiere die Kadaver der eigenen Erschöpfungstoten als
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