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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Raststätten, als Landestationen benutzen. Dann schaue ich auf.
    Der Mann gegenüber liest das Gesicht seiner Begleiterin. Es ist eine Wanderkarte.
    »Freust du dich?«
    »Was mich freut, freut mich nicht ohne dich. Was mich bekümmert, bekümmert mich auch ganz allein.«
    Er hört es gern. Doch flacher wurzelnd, wie er nun einmal lebt, liebt er diese Frau eher wie ein Ausflügler.
    »Überlass dich doch einfach mal deinen Emotionen«, sagt sie. Aus seinem Gesicht sind diese gerade gewichen. Und er erwidert, wie in einem alten Spiel zwischen den beiden:
    »Ich weiß doch, Spiele werden im Kopf entschieden«, und umfährt sie mit dem Zartgefühl des Polypen.
     
    Das Paar: Sie fühlen sich immer noch, müssen es sich aber nicht mehr sagen. Mit der Jugend ihrer Liebe hat ihnen das Leben auch den Wunsch genommen, diese auszusprechen. Was bleibt, sind die aus der Routine herausfallenden Zeichen. Er streicht ihren Mantel am Haken der Garderobe glatt, als sei ihr Körper noch darin. Sie sagt, wenn er in den Waschraum geht:
    »Haben Sie bemerkt, wie fein er das eben formulierte: ›Der falbe Glanz des Fells …‹«
     
    Der einsame Esser beendet die Lektüre eines Zeitungsartikels mit dem Titel »Christus erscheint im Fladenbrot«, schließt die Augen, tut einen tiefen Zwanzig-Euro-Schluck aus dem Champagnerglas und mustert die alten Speisenden ringsum. Dann ist gleich der Ober da und demonstriert den Zusammenhang von Luxus und Überwachung. Nichts, was du an deinem Tisch tust, will er sagen, ist bedeutungslos, nichts wird nicht gelesen. Ein Mineralwasser. »Genießen Sie es.« Der leere Teller: »Kann ich abräumen?« Der leere Blick: »Sie sind zufrieden?« Das zusammengelegte Besteck: »Der Herr ist fertig?« Die zurückgelassene Kartoffel: »Es war nicht recht?« Das Wohlbefinden wird in einem Verhör ermittelt. Der Luxus wechselt die Erfahrungen seltener als die Dekors. Und alle Herbstzeitlosen sind im Raum, und alle Verflossenen duften noch. Man geht aus der antiquierten Rasierwasserwolke in das Blaustrumpfparfüm der Witwen, durch den Körperpuder diabeteskranker Ehefrauen, den verwelkten Hauch der Bodylotion, der nach der Dusche des alternden Tennislehrers verblichen war und sich doch noch verströmte, und inhaliert die Delikatesse der Nachtluft.
     
    Der Kellner apportiert Gâteau vom Seeigel. Mit Verachtung blickt die Ehefrau auf das Gekröse und sagt:
    »Das ist für meinen Mann«, es klingt wie: »Das ist von meinem Mann.«
    Der Kellner erlaubt sich einen Witz und sagt zum einzigen Herrn am Tisch lachend:
    »Sie sehen wie ein Ehemann aus.«
    »Nein, ich bin Zivilist«, erwidert dieser ernst.
    Sie protestiert, und der Gatte beschwichtigt:
    »Sie sehen, meine Frau hängt an mir.«
    »Aber eher wie das Maskottchen am Rückspiegel«, spottet sie.
    Ich vermisse Ricarda und unsere Geschichte, die endete. Meine Stärke ist: Ich bin da, wenn man mich braucht. Meine Schwäche ist: Ich bin auch da, wenn man mich nicht braucht.
    Inzwischen streitet sich der Ehemann und Zivilist mit seiner Frau. Das Weiße in ihren Augen hat einen Blauschimmer. Unterwegs behauptet er, die wenigsten könnten einen guten Gedanken von einem schlechten unterscheiden. Stattdessen unterschieden sie den schönen Ausdruck und die ehrliche Gesinnung. Sie erzählt eine umständliche Geschichte, in der sie am Mittwoch, nein, es war Donnerstag, um genau zu sein: Donnerstagnachmittag, in einem Kaufhaus, also du weißt schon, dieser Kasten da, wie heißt er noch … Sie redet lang und ziellos. Er erwidert:
    »Es dreht sich wohl mal wieder alles um dich?«
    Sie antwortet: »Es dreht sich zu Recht um mich, weil es sich zu Recht nicht um dich drehen könnte.«
    Sie ist von grausamer sexueller Überlegenheit. Deshalb schließt er den Disput ab, aber indem er sich den Mund mit dem Handteller abwischt und zum Kellner gewandt resümiert:
    »So. Da war ich also mal wieder in der Unterzahl.«
     
    Als meine Freundin eine Sängerin war, hat sie einmal den Satz gesagt, der in den Lichtspielhäusern daheim ist, den Satz:
    »Heute Abend singe ich nur für dich.«
    Sie schlenderte in den Lichtkegel mit einem kühnen, vom Schatten weggerafften Profil. Da war eine Vergeudung in ihrer Erscheinung, noch ihr Untergang war vergeudet, einmal mitten im Gesang, einmal im Applaus.
    Ich bin dein Freund und gerührt. Ich gehe im vierten Lied und rauche am Geländer über einem Parkplatz. Ich kehre zurück in deine Verneigung. Das Johlen des Publikums lässt nicht erkennen, auf

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