Momo
Prinzessin Momo erkannte den Prinzen aus dem Morgen-Land nicht, denn er war ja nun ein armer Schlucker. Und auch Gigi erkannte die Prinzessin nicht, denn wie eine Prinzessin sah sie eigentlich nicht mehr aus. Aber in ihrem gemeinsamen Unglück freundeten sich die beiden miteinander an und trösteten sich gegenseitig.
Eines Abends, als wieder der silberne Zauberspiegel, der nun leer war, am Himmel dahinschwebte, holte Gigi das Spiegelbild hervor und zeigte es Momo. Es war schon sehr zerknittert und verwischt, aber die Prinzessin erkannte doch sofort, daß es ihr eigenes Bild war, das sie damals ausgeschickt hatte. Und nun erkannte sie auch unter der Maske des armen Schluckers Gigi den Prinzen Girolamo, den sie immer gesucht hatte und für den sie sterblich geworden war. Und sie erzählte ihm alles.
Aber Gigi schüttelte traurig den Kopf und sagte: Ich kann nichts von dem verstehen, was du sagst, denn in meinem Herzen ist ein Knoten, und deshalb kann ich mich an nichts erinnern. Da griff Prinzessin Momo in seine Brust und löste ganz leicht den Knoten seines Herzens auf.
Und nun wußte Prinz Girolamo plötzlich wieder, wer er war und wo er hingehörte. Er nahm die Prinzessin bei der Hand und ging mit ihr weit fort – in die Ferne, wo das Morgen-Land liegt.“
Nachdem Gigi geendet hatte, schwiegen sie beide ein Weilchen, dann fragte Momo: „Und sind sie später Mann und Frau geworden?“
„Ich glaube schon“, sagte Gigi, „-später.“
„Und sind sie inzwischen gestorben?“
„Nein“, sagte Gigi bestimmt, „das weiß ich zufällig genau. Der Zauberspiegel macht einen nur sterblich, wenn man allein hineinblickte. Schaute man aber zu zweit hinein, dann wurde man wieder unsterblich. Und das haben die beiden getan.“
Groß und silbern stand der Mond über den schwarzen Pinien und ließ die alten Steine der Ruine geheimnisvoll glänzen. Momo und Gigi saßen still nebeneinander und blickten lange zu ihm hinauf, und sie fühlten ganz deutlich, daß sie für die Dauer dieses Augenblicks beide unsterblich waren.
ZWEITER TEIL: DIE GRAUEN HERREN
SECHSTES KAPITEL: Die Rechnung ist falsch und geht doch auf
Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bißchen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, daß einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.
Und genau das wußte niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf, so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen, und auf ihre Weise handelten sie danach.
Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weitgesteckte und sorgfältig vorbereitete Pläne.
Das Wichtigste war ihnen, daß niemand auf ihre Tätigkeit aufmerksam wurde. Unauffällig hatten sie sich im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt. Und Schritt für Schritt, ohne daß jemand es bemerkte, drangen sie täglich weiter vor und ergriffen Besitz von den Menschen.
Sie kannten jeden, der für ihre Absichten in Frage kam, schon lange bevor der Betreffende selbst etwas davon ahnte. Sie warteten nur den richtigen Augenblick ab, in dem sie ihn fassen konnten. Und sie taten das ihre dazu, daß dieser Augenblick eintrat. Da war zum Beispiel Herr Fusi, der Friseur. Er war zwar kein berühmter Haarkünstler, aber er war in seiner Straße gut angesehen. Er war nicht arm und nicht reich. Sein Laden, der mitten in der Stadt lag, war klein, und er beschäftigte einen Lehrjungen.
Eines Tages stand Herr Fusi in der Tür seines Ladens und wartete auf Kundschaft. Der Lehrjunge hatte frei, und Herr Fusi war allein. Er sah zu, wie der Regen auf die Straße platschte, es war ein grauer Tag, und auch in Herrn Fusis Seele war trübes Wetter.
„Mein Leben geht so dahin“, dachte er, „mit Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum. Was habe ich eigentlich von meinem Dasein? Und wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich nie gegeben.“
Es war nun durchaus nicht so, daß Herr Fusi etwas gegen ein Schwätzchen hatte. Er liebte
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