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Momo

Momo

Titel: Momo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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einrichten“, fragte Momo, „daß die Zeit-Diebe den Menschen keine Zeit mehr stehlen können?“
„Nein, das kann ich nicht“, antwortete Meister Hora, „denn was die Menschen mit ihrer Zeit machen, darüber müssen sie selbst bestimmen. Sie müssen sie auch selbst verteidigen. Ich kann sie ihnen nur zuteilen.“
Momo blickte sich im Saal um, dann fragte sie: „Hast du dazu die vielen Uhren? Für jeden Menschen eine, ja?“
„Nein, Momo“, erwiderte Meister Hora, „diese Uhren sind nur eine Liebhaberei von mir. Sie sind nur höchst unvollkommene Nachbildungen von etwas, das jeder Mensch in seiner Brust hat. Denn so wie ihr Augen habt, um das Licht zu sehen, und Ohren, um Klänge zu hören, so habt ihr ein Herz, um damit die Zeit wahrzunehmen. Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist so verloren, wie die Farben des Regenbogens für einen Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben. Aber es gibt leider blinde und taube Herzen, die nichts wahrnehmen, obwohl sie schlagen.“
„Und wenn mein Herz einmal aufhört, zu schlagen?“ fragte Momo.
„Dann“, erwiderte Meister Hora, „hört auch die Zeit für dich auf, mein Kind. Man könnte auch sagen, du selbst bist es, die durch die Zeit zurückgeht, durch alle deine Tage und Nächte, Monate und Jahre. Du wanderst durch dein Leben zurück, bis du zu dem großen runden Silbertor kommst, durch das du einst hereinkamst. Dort gehst du wieder hinaus.“
„Und was ist auf der anderen Seite?“
„Dann bist du dort, wo die Musik herkommt, die du manchmal schon ganz leise gehört hast. Aber dann gehörst du dazu, du bist selbst ein Ton darin.“ Er blickte Momo prüfend an. „Aber das kannst du wohl noch nicht verstehen?“
„Doch“, sagte Momo leise, „ich glaube schon.“ Sie erinnerte sich an ihren Weg durch die Niemals-Gasse, in der sie alles rückwärts erlebt hatte und sie fragte: „Bist du der Tod?“
Meister Hora lächelte und schwieg eine Weile, ehe er antwortete: „Wenn die Menschen wüßten, was der Tod ist, dann hätten sie keine Angst mehr vor ihm. Und wenn sie keine Angst mehr vor ihm hätten, dann könnte niemand ihnen mehr die Lebenszeit stehlen.“
„Dann braucht man es ihnen doch bloß zu sagen“, schlug Momo vor.
„Meinst du?“ fragte Meister Hora. „Ich sage es ihnen mit jeder Stunde, die ich ihnen zuteile. Aber ich fürchte, sie wollen es gar nicht hören. Sie wollen lieber denen glauben, die ihnen Angst machen. Das ist auch ein Rätsel.“
„Ich hab' keine Angst“, sagte Momo.
Meister Hora nickte langsam. Er blickte Momo lange an, dann fragte er: „Möchtest du sehen, wo die Zeit herkommt?“
„Ja“, flüsterte sie.
„Ich werde dich hinführen“, sagte Meister Hora. „Aber an jenem Ort muß man schweigen. Man darf nichts fragen und nichts sagen. Versprichst du mir das?“ Momo nickte stumm.
Da beugte Meister Hora sich zu ihr herunter, hob sie hoch und nahm sie fest in seine Arme. Er schien ihr auf einmal sehr groß und unaussprechlich alt, aber nicht wie ein alter Mann, sondern wie ein uralter Baum oder wie ein Felsenberg. Dann deckte er ihr mit der Hand die Augen zu und es fühlte sich an wie leichter, kühler Schnee, der auf ihr Gesicht fiel.
Momo war es, als ob Meister Hora mit ihr durch einen langen dunklen Gang schritte. Aber sie fühlte sich ganz geborgen und hatte keine Angst. Anfangs meinte sie, das Pochen ihres eigenen Herzens zu hören, aber dann schien es ihr mehr und mehr, als sei es in Wirklichkeit der Widerhall von Meister Horas Schritten.
Es war ein langer Weg, aber schließlich setzte er Momo ab. Sein Gesicht war nahe vor dem ihren, er blickte sie groß an und hatte den Finger an die Lippen gelegt. Dann richtete er sich auf und trat zurück. Goldene Dämmerung umgab sie.
Nach und nach erkannte Momo, daß sie unter einer gewaltigen, vollkommen runden Kuppel stand, die ihr so groß schien wie das ganze Himmelsgewölbe. Und diese riesige Kuppel war aus reinstem Gold. Hoch oben in der Mitte war eine kreisrunde Öffnung, durch die eine Säule von Licht senkrecht herniederfiel auf einen ebenso kreisrunden Teich, dessen schwarzes Wasser glatt und reglos lag wie ein dunkler Spiegel.
Dicht über dem Wasser funkelte etwas in der Lichtsäule wie ein heller Stern. Es bewegte sich mit majestätischer Langsamkeit dahin, und Momo erkannte ein ungeheures Pendel, welches über dem schwarzen Spiegel hin- und zurückschwang. Aber es war nirgends aufgehängt. Es schwebte und schien ohne Schwere zu

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