Momo
Metalle sangen. Und dann tauchten, gleichsam dahinter, Stimmen ganz anderer Art auf, Stimmen aus undenkbaren Fernen und von unbeschreibbarer Mächtigkeit. Immer deutlicher wurden sie, so daß Momo nun nach und nach Worte hörte, Worte einer Sprache, die sie noch nie vernommen hatte und die sie doch verstand. Es waren Sonne und Mond und die Planeten und alle Sterne, die ihre eigenen, ihre wirklichen Namen offenbarten. Und in diesen Namen lag beschlossen, was sie tun und wie sie alle zusammenwirken, um jede einzelne dieser Stunden-Blumen entstehen und wieder vergehen zu lassen.
Und auf einmal begriff Momo, daß alle diese Worte an sie gerichtet waren! Die ganze Welt bis hinaus zu den fernsten Sternen war ihr zugewandt wie ein einziges, unausdenkbar großes Gesicht, das sie anblickte und zu ihr reckte! Und es überkam sie etwas, das größer war als Angst. In diesem Augenblick sah sie Meister Hora, der ihr schweigend mit der Hand winkte. Sie stürzte auf ihn zu, er nahm sie auf den Arm, und sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Wieder legten sich seine Hände schneeleise auf ihre Augen, und es wurde dunkel und still und sie fühlte sich geborgen. Er ging mit ihr den langen Gang zurück. Als sie wieder in dem kleinen Zimmer zwischen den Uhren waren, bettete er sie auf das zierliche Sofa.
„Meister Hora“, flüsterte Momo, „ich hab' nie gewußt, daß die Zeit aller Menschen so…“ – sie suchte nach dem richtigen Wort und konnte es nicht finden - „so groß ist“, sagte sie schließlich.
„Was du gesehen und gehört hast, Momo“, antwortete Meister Hora, „das war nicht die Zeit aller Menschen. Es war nur deine eigene Zeit. In jedem Menschen gibt es diesen Ort, an dem du eben warst. Aber dort hinkommen kann nur, wer sich von mir tragen läßt. Und mit gewöhnlichen Augen kann man ihn nicht sehen.“
„Aber wo war ich denn?“
„In deinem eigenen Herzen“, sagte Meister Hora und strich ihr sanft über ihr struppiges Haar.
„Meister Hora“, flüsterte Momo wieder, „darf ich meine Freunde auch zu dir bringen?“
„Nein“, antwortete er, „das kann jetzt noch nicht sein.“
„Wie lang darf ich denn bei dir bleiben?“
„Bis es dich selbst zu deinen Freunden zurückzieht, mein Kind.“
„Aber darf ich ihnen erzählen, was die Sterne gesagt haben?“
„Du darfst es. Aber du wirst es nicht können.“
„Warum nicht?“
„Dazu müßten die Worte dafür in dir erst wachsen.“
„Ich möchte ihnen aber davon erzählen, allen! Ich möchte ihnen die Stimmen vorsingen können. Ich glaube, dann würde alles wieder gut werden.“
„Wenn du das wirklich willst, Momo, dann mußt du warten können.“
„Warten macht mir nichts aus.“
„Warten, Kind, wie ein Samenkorn, das in der Erde schläft einen ganzen Sonnenkreis lang, ehe es aufgehen kann. So lang dauert es, bis die Worte in dir gewachsen sein werden. Willst du das?“
„Ja“, flüsterte Momo.
„Dann schlafe“, sagte Meister Hora und strich ihr über die Augen, „schlafe!“ Und Momo holte tief und glücklich Atem und schlief ein.
DRITTER TEIL: DIE STUNDEN-BLUMEN
DREIZEHNTES KAPITEL: Dort ein Tag und hier ein Jahr
Momo erwachte und schlug die Augen auf. Sie mußte sich eine Weile besinnen, wo sie war.
Es verwirrte sie, daß sie sich auf den grasbewachsenen Steinstufen des alten Amphitheaters wiederfand. War sie denn nicht vor wenigen Augenblicken noch im Nirgend-Haus bei Meister Hora gewesen? Wie kam sie denn so plötzlich hierher? Es war dunkel und kühl. Über dem östlichen Horizont dämmerte eben das erste Morgengrauen auf. Momo fröstelte und zog sich ihre viel zu große Jacke enger um den Leib.
Ganz deutlich erinnerte sie sich an alles, was sie erlebt hatte, an die nächtliche Wanderung durch die große Stadt hinter der Schildkröte her, an den Stadtteil mit dem seltsamen Licht und den blendend weißen Häusern, an die Niemals-Gasse, an den Saal mit den unzähligen Uhren, an die Schokolade und die Honigbrötchen, an jedes einzelne Wort ihrer Unterhaltung mit Meister Hora und an das Rätsel. Aber vor allem erinnerte sie sich an das Erlebnis unter der goldenen Kuppel. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, um die nie zuvor geschaute Farbenpracht der Blüten wieder vor sich zu sehen. Und die Stimmen von Sonne, Mond und Sternen klangen ihr noch immer im Ohr, so deutlich sogar, daß sie die Melodien mitsummen konnte. Und während sie das tat, formten sich Worte in ihr, Worte, die wirklich den Duft der Blüten und deren niegesehene
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