Momo
Amphitheater“, sagte sie zu sich, „vielleicht ist es noch nicht zu spät, vielleicht wartet er auf mich.“ Aber das war nun leichter beschlossen als getan. Sie wußte nicht, wo sie sich befand, und hatte nicht die leiseste Ahnung, in welche Richtung sie überhaupt laufen mußte. Trotzdem lief sie aufs Geratewohl los. Sie lief immer weiter und weiter durch die dunklen, totenstillen Straßen. Und da sie barfuß war, hörte sie nicht einmal den Klang ihrer eigenen Schritte. Jedesmal, wenn sie in eine neue Straße einbog, hoffte sie, irgend etwas zu entdecken, das ihr verriet, wie sie weiterlaufen mußte, irgendein Zeichen, das sie wiedererkannte. Aber sie fand keines. Und fragen konnte sie auch niemand, denn das einzige lebendige Wesen, das ihr begegnete, war ein magerer, schmutziger Hund, der in einem Abfallhaufen nach Eßbarem suchte und ängstlich floh, als sie näher kam.
Schließlich gelangte Momo zu einem riesenhaften, leeren Platz. Es war keiner von den schönen Plätzen, auf denen Bäume oder Brunnen stehen, sondern einfach eine weite, leere Fläche. Nur am Rande hoben sich dunkel die Umrisse der Häuser gegen den nächtlichen Himmel ab. Momo überquerte den Platz. Als sie eben dessen Mitte erreicht hatte, begann ziemlich in der Nähe eine Turmuhr zu schlagen. Sie schlug viele Male, also war es nun vielleicht schon Mitternacht. Wenn der graue Herr jetzt im Amphitheater auf sie wartete, dachte Momo, dann konnte sie unmöglich noch rechtzeitig hinkommen. Er würde unverrichteterdinge wieder fortgehen. Die Möglichkeit, ihren Freunden zu helfen, würde vorüber sein – vielleicht ein für allemal! Momo biß sich auf die Faust. Was sollte, was konnte sie jetzt noch tun? Sie wußte sich keinen Rat.
„Hier bin ich!“ rief sie, so laut sie konnte, in die Dunkelheit hinein. Aber sie hatte keine Hoffnung, daß der graue Herr sie hören würde. Doch darin hatte sie sich getäuscht.
Kaum war nämlich der letzte Glockenschlag verhallt, als gleichzeitig in allen Straßen, die ringsum auf den großen, leeren Platz mündeten, ein schwacher Lichtschein auftauchte, der rasch heller wurde. Und dann erkannte Momo, daß es die Scheinwerfer von vielen Autos waren, die nun sehr langsam von allen Seiten auf die Mitte des Platzes zukamen, wo sie stand.
In welche Richtung sie sich auch wandte, von überallher strahlte ihr grelles Licht entgegen, und sie mußte ihre Augen mit der Hand schützen. Sie kamen also! Aber mit einem so gewaltigen Aufgebot hatte Momo nicht gerechnet. Für einen Augenblick schwand ihr ganzer Mut wieder dahin. Und da sie eingekreist war und nicht weglaufen konnte, verkroch sie sich, soweit das möglich war, in ihrer viel zu großen Männerjacke. Aber dann dachte sie an die Blumen und an die Stimmen in der großen Musik, und im Nu fühlte sie sich getröstet und gestärkt. Mit leise brummenden Motoren waren die Autos näher und näher herangekommen. Schließlich blieben sie, Stoßstange neben Stoßstange, in einem Kreis stehen, dessen Mittelpunkt Momo war. Dann stiegen die Herren aus. Momo konnte nicht sehen, wie viele es waren, denn sie blieben im Dunkeln hinter den Scheinwerfern. Aber sie spürte, daß viele Blicke auf sie gerichtet waren – Blicke, die nichts Freundliches enthielten.
Und ihr wurde kalt. Eine ganze Weile sagte niemand ein Wort, Momo nicht und auch keiner der grauen Herren.
„Das also“, hörte sie schließlich eine aschenfarbene Stimme, „ist dieses Mädchen Momo, das uns einmal herausfordern zu können glaubte. Seht es euch jetzt an, dieses Häufchen Unglück!“ Diesen Worten folgte ein rasselndes Geräusch, das sich entfernt anhörte wie vielstimmiges Gelächter.
„Vorsicht!“ sagte eine andere aschenfarbene Stimme unterdrückt, „Sie wissen, wie gefährlich uns die Kleine werden kann. Es hat keinen Zweck, ihr etwas vorzumachen.“ Momo horchte auf.
„Na schön“, sagte die erste Stimme aus dem Dunkel hinter den Scheinwerfern, „versuchen wir's also mit der Wahrheit.“ Wieder entstand eine lange Stille. Momo fühlte, daß die grauen Herren sich davor fürchteten, die Wahrheit zu sagen. Es schien sie eine unvorstellbare Anstrengung zu kosten. Momo hörte etwas, das wie ein Keuchen aus vielen Kehlen klang.
Endlich begann wieder einer zu reden. Die Stimme kam aus einer anderen Richtung, aber klang genauso aschenfarben: „Reden wir also offen miteinander. Du bist allein, armes Kind. Deine Freunde sind unerreichbar für dich. Es gibt niemand mehr, mit dem du deine Zeit teilen
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