Momo
Sie lief ihn ein zweites und ein drittes Mal.
Sie ließ sich einfach mittreiben in dem Strom der immer eiligen Menschenmassen. Aber sie war ja schon den ganzen Tag über herumgelaufen, und allmählich schmerzten ihre Füße vor Müdigkeit. Es wurde spät und später, und Momo marschierte halb im Schlaf dahin, immer weiter, weiter, weiter…
„Nur einen Augenblick ausruhen“, dachte sie endlich, „nur einen winzigen Augenblick, dann kann ich wieder besser achtgeben…“ Am Straßenrand stand gerade ein kleiner, dreirädriger Lieferwagen, auf dessen Ladefläche allerlei Säcke und Kisten lagen. Momo kletterte hinauf und lehnte sich gegen einen Sack, der angenehm weich war. Sie zog die müden Füße hoch und steckte sie unter ihren Rock. Ach, das tat gut! Sie seufzte erleichtert, schmiegte sich gegen den Sack und war, ehe sie es selbst merkte, vor Erschöpfung eingeschlafen. Wirre Träume suchten sie heim. Sie sah den alten Beppo, der seinen Besen als Balancierstange benutzte, hoch über einem finsteren Abgrund auf einem Seil dahinschwanken.
„Wo ist das andere Ende?“ hörte sie ihn immer wieder rufen. „Ich kann das andere Ende nicht finden!“
Und das Seil schien tatsächlich unendlich lang. Es verlor sich nach beiden Seiten in der Dunkelheit.
Momo wollte Beppo so gerne helfen, aber sie konnte sich ihm nicht einmal bemerkbar machen. Er war zu weit fort, zu hoch droben. Dann sah sie Gigi, der sich einen endlosen Papierstreifen aus dem Munde zog. Er zog und zog immer weiter, aber der Papierstreifen hörte nicht auf und riß auch nicht ab. Gigi stand schon auf einem ganzen Berg von Papierstreifen. Und es schien Momo, als ob er sie flehend anblickte, als ob er keine Luft mehr bekommen könne, wenn sie ihm nicht zu Hilfe käme.
Sie wollte zu ihm hinlaufen, aber ihre Füße verfingen sich in den Papierstreifen. Und je heftiger sie sich zu befreien versuchte, desto mehr verwickelte sie sich darin.
Dann sah sie die Kinder. Sie waren alle ganz flach wie Spielkarten. Und in jede Karte waren richtige Muster kleiner Löcher gestanzt. Die Karten wurden durcheinandergewirbelt, dann mußten sie sich neu ordnen, und neue Löcher wurden in sie hineingestanzt. Die Kartenkinder weinten lautlos, aber schon wurden sie wieder gemischt, und dabei fielen sie übereinander, daß es knatterte und ratterte.
„Halt!“ wollte Momo rufen und „aufhören!“, aber das Knattern und Rattern übertönte ihre schwache Stimme. Und es wurde immer lauter und lauter, bis sie schließlich davon aufwachte. Im ersten Augenblick wußte sie nicht mehr, wo sie sich befand, denn es war dunkel um sie.
Doch dann fiel ihr wieder ein, daß sie sich auf den Lieferwagen gesetzt hatte. Und dieser Wagen fuhr jetzt, und sein Motor machte solchen Lärm.
Momo wischte sich die Wangen ab, die noch naß von Tränen waren. Wo war sie überhaupt? Der Wagen mußte wohl schon eine ganze Weile gefahren sein, ohne daß sie es gemerkt hatte, denn er befand sich jetzt in einem Teil der Stadt, der um diese späte Nachtzeit wie ausgestorben wirkte. Die Straßen waren menschenleer und die hohen Häuser dunkel. Der Lieferwagen fuhr nicht sehr schnell, und Momo sprang ab, ehe sie sich's recht überlegt hatte.
Sie wollte auf die belebten Straßen zurück, wo sie vor dem grauen Herren sicher zu sein glaubte. Aber dann fiel ihr ein, was sie geträumt hatte, und sie blieb stehen. Das Motorengeräusch verklang allmählich in den dunklen Straßen, und es wurde still.
Momo wollte nicht mehr fliehen. Sie war davongelaufen, in der Hoffnung, sich zu retten. Die ganze Zeit hatte sie nur an sich, an ihr eigene Verlassenheit, an ihre eigene Angst gedacht! Und dabei waren es doch in Wirklichkeit ihre Freunde, die in Not waren. Wenn es überhaupt noch jemand gab, der ihnen Hilfe bringen konnte, dann war sie es. Mochte die Möglichkeit, die grauen Herren dazu zu bewegen, ihre Freunde freizugeben, auch noch so winzig sein, versuchen mußte sie es wenigstens. Als sie so weit gedacht hatte, fühlte sie plötzlich eine seltsame Veränderung in sich. Das Gefühl der Angst und Hilflosigkeit war so groß geworden, daß es plötzlich umschlug und sich ins Gegenteil verwandelte. Es war durchgestanden. Sie fühlte sich nun so mutig und zuversichtlich, als ob keine Macht der Welt ihr etwas anhaben könnte, oder vielmehr: es kümmerte sie überhaupt nicht mehr, was mit ihr geschehen würde.
Jetzt wollte sie dem grauen Herren begegnen. Sie wollte es um jeden Preis.
„Ich muß sofort zum alten
Weitere Kostenlose Bücher