Momo
Tag konnte sie die Worte nachsprechen und die Melodien mitsingen, obgleich diese sich immerfort neu bildeten und niemals die gleichen waren.
Manchmal saß sie ganze Tage lang allein auf den steinernen Stufen und sprach und sang vor sich hin. Niemand war da, der ihr zuhörte, außer den Bäumen und den Vögeln und den alten Steinen. Es gibt viele Arten von Einsamkeit, aber Momo erlebte eine, die wohl nur wenige Menschen kennengelernt haben, und die wenigsten mit solcher Gewalt.
Sie kam sich vor wie eingeschlossen in einer Schatzhöhle voll unermeßlicher Reichtümer, die immer mehr und mehr wurden und sie zu ersticken drohten. Und es gab keinen Ausgang! Niemand konnte zu ihr dringen, und sie konnte sich niemand bemerkbar machen, so tief vergraben unter einem Berg von Zeit.
Es kamen sogar Stunden, in denen sie sich wünschte, sie hätte die Musik nie gehört und die Farben nie geschaut. Und dennoch, wäre sie vor die Wahl gestellt worden, sie hätte diese Erinnerung um nichts in der Welt wieder hergegeben. Auch wenn sie daran sterben mußte.
Denn das war es, was sie nun erfuhr: Es gibt Reichtümer, an denen man zugrunde geht, wenn man sie nicht mit anderen teilen kann.
Alle paar Tage lief Momo zu Gigis Villa und wartete oft lange vor dem Gartentor. Sie hoffte, ihn noch einmal zu sehen. Sie war inzwischen mit allem einverstanden. Sie wollte bei ihm bleiben, ihm zuhören und zu ihm sprechen, ganz gleich, ob es so werden würde wie früher. Aber das Tor öffnete sich nie wieder.
Es waren nur einige Monate, die so vergingen - und doch war es die längste Zeit, die Momo je durchlebte. Denn die wirkliche Zeit ist eben nicht nach der Uhr und dem Kalender zu messen. Über eine solche Art von Einsamkeit kann man in Wahrheit auch nichts erzählen. Es genügt vielleicht, nur dies eine noch zu sagen: Wenn Momo den Weg zu Meister Hora hätte finden können – und sie versuchte es oft und oft - so wäre sie zu ihm hingegangen und hätte ihn gebeten, ihr keine Zeit mehr zuzuteilen, oder ihr zu erlauben, bei ihm im Nirgend-Haus für immer zu bleiben.
Aber ohne Kassiopeia konnte sie den Weg nicht wiederfinden. Und die war und blieb verschwunden. Vielleicht war sie längst zu Meister Hora zurückgekehrt. Oder sie hatte sich irgendwo auf der Welt verirrt. Jedenfalls kam sie nicht wieder. – Statt dessen geschah etwas ganz anderes.
Eines Tages nämlich begegnete Momo in der Stadt drei Kindern, die früher immer zu ihr gekommen waren. Es waren Paolo, Franco und das Mädchen Maria, das früher immer das kleine Geschwisterchen Dedé herumgetragen hatte. Alle drei sahen ganz verändert aus. Sie trugen eine Art grauer Uniform, und ihre Gesichter wirkten seltsam erstarrt und leblos. Selbst als Momo sie jubelnd begrüßte, lächelten sie kaum. „Ich hab' euch so gesucht“, sagte Momo atemlos, „kommt ihr jetzt wieder zu mir?“
Die drei wechselten Blicke, dann schüttelten sie die Köpfe.
„Aber morgen vielleicht, ja?“ fragte Momo. „Oder übermorgen?“
Wiederum schüttelten die drei die Köpfe.
„Ach, kommt doch wieder!“ bat Momo. „Früher seid ihr doch immer gekommen.“
„Früher!“ antwortete Paolo, „aber jetzt ist alles anders. Wir dürfen unsere Zeit nicht mehr nutzlos vertun.“
„Das haben wir doch nie getan“, meinte Momo.
„Ja, es war schön“, sagte Maria, „aber darauf kommt es nicht an.“ Die drei Kinder gingen eilig weiter. Momo lief neben ihnen her. „Wo geht ihr denn jetzt hin?“ wollte sie wissen.
„In die Spielstunde“, antwortete Franco. „Da lernen wir spielen.“
„Was denn?“ fragte Momo.
„Heute spielen wir Lochkarten“, erklärte Paolo, „das ist sehr nützlich, aber man muß höllisch aufpassen.“
„Und wie geht das?“
„Jeder von uns stellt eine Lochkarte dar. Jede Lochkarte enthält eine Menge verschiedener Angaben: wie groß, wie alt, wie schwer, und so weiter. Aber natürlich nie das, was man wirklich ist, sonst wäre es ja zu einfach. Manchmal sind wir auch nur lange Zahlen, MUX/763/y zum Beispiel. Dann werden wir gemischt und kommen in eine Kartei. Und dann muß einer von uns eine bestimmte Karte herausfinden. Er muß Fragen stellen, und zwar so, daß er alle anderen Karten aussondert und nur die eine zum Schluß übrig bleibt. Wer es am schnellsten kann, hat gewonnen.“
„Und das macht Spaß?“ fragte Momo etwas zweifelnd.
„Darauf kommt es nicht an“, meinte Maria ängstlich, „so darf man nicht reden.“
„Aber worauf kommt es denn an?“ wollte Momo
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