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Mond der verlorenen Seelen

Mond der verlorenen Seelen

Titel: Mond der verlorenen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Meyer
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Gang war steif und unsicher. Plötzlich rutschte er auf dem feuchten Gras aus und landete mit einem Fluch auf seinem Hinterteil, mitten im Kräuterbeet. Zuerst schimpfte er wie ein Rohrspatz und stieß Ambers dargebotene Hand beiseite, aber schließlich begann er, schallend zu lachen.
    „Jetzt hat mein schrumpeliger Hintern die Kräuter zerdrückt. Die wollte ich noch ernten.“
    Amber ließ sich von seinem Lachen anstecken. Die gespannte Stimmung von vorhin verflog. Das tat so gut. Seit Dads Tod lachte sie nur selten. Früher hatten sie oft gelacht, Dad, Mom und Kevin, wenn sie sich gegenseitig neckten. Aber diese Zeit war vorbei — endgültig, und Dad lebte nur noch in ihrer Erinnerung. Amber schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Immer, wenn sie an Dad dachte, stiegen Tränen in ihre Augen. Sie blinzelte sie fort und reichte Hermit erneut die Hand, um ihn hochzuziehen.
    „Bei drei ziehst du dich hoch.“
    Hermit war kein Leichtgewicht, und er war steif, was Amber Mühe bereitete. Der Alte umklammerte ihren Arm, Amber verlor das Gleichgewicht und rutschte mit ihren Joggingschuhen auf dem nassen Rasen aus. Beide plumpsten lachend ins Kräuterbeet zurück.
    „Ich war dir ja ne große Hilfe.“ Amber wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Dann blickte sie an sich hinunter. „Igitt, meine Hose. Jetzt muss ich mich auch noch umziehen.“ Sie stöhnte und wischte mit den Fingern über die Erdflecken, die auf ihrer hellblauen Jeans prangten.
    „Keine Sorge, kann man reinigen. Hat doch was, wir beide hier zusammen. Welcher alte Knacker kann behaupten, mit einer schönen, jungen Frau im Beet gelegen zu haben?“ Hermit zwinkerte ihr zu und zog die Gartenschürze zurecht.
    „Alter Casanova. Komm, versuchen wir noch mal gemeinsam, aufzustehen.“
    Sie brauchten zwei Versuche, bis sie es endlich geschafft hatten. Bewundernd sah Amber den alten Druiden an. Auch wenn sein Körper nicht mehr so mitspielte, verlor er weder seinen Lebensmut noch den trockenen Humor.
    „Hast du dir wehgetan?“ Amber hatte über ihr Missgeschick fast Hermits Gicht vergessen. Besorgt legte sie ihre Hand auf seine Schulter und forschte in seiner Miene.
    „Passt schon, solch nen kernigen Kerl wie mich haut so schnell nichts um“, antwortete er und schmunzelte.
    „Klar, bist doch noch jung und knackig.“ Amber kniff ihn freundschaftlich in den Arm.
    „Knackig schon, aber nur in den Gelenken.“
    Lachend drehte er sich zu dem Magnolienbaum um und schnupperte an einer Blüte. „Ich erfreue mich jedes Frühjahr an ihm. Bäume können viel erzählen.“ Er brach ein Stück vom Zweig ab und reichte ihn ihr. „Nimm und sag mir, was du fühlst.“ Lauernd ruhte sein Blick auf ihr.
    Ambers Finger umschlossen das fingerdicke Holz. Vorsichtig rieb sie mit den Fingern über die Oberfläche. „Fühlt sich rau an, die Rinde bröckelt. Der Baum hat Moos angesetzt.“
    „Herrgott, nicht so nüchtern! Ich will nicht hören, was deine Hände ertasten, sondern was du fühlst, wenn du ihn berührst! Druiden erfassen das Leben mit allen Sinnen.“
    Trotz seines barschen Tonfalls wusste Amber, dass er sie nur ermutigen wollte, in sich hineinzuhorchen. Sie schloss die Augen, damit es ihr leichter fiel, sich ihrem Inneren zu öffnen. Dabei überkam sie wieder das seltsame Gefühl des Entrückens, als zöge der Zweig sie in eine andere Welt. Sie hörte ein Flüstern, als wolle er ihr etwas erzählen. Der Ausflug in die Dämonenwelt hatte anscheinend ihre Sinne geschärft.
    „Erinnerungen“, flüsterte sie, „ich fühle Erinnerungen.“ Bilder erschienen vor ihrem geistigen Auge, zuerst verschwommen, bis sie immer klarer wurden.
    „Das ist gut. Weiter. Was siehst du?“
    „Einen Mann, der einen Baum unter dem Arm trägt. Er spricht zu jemandem, den ich nicht sehen kann ...“
    „Was noch?“
    „In seiner linken Hand hält er einen Spaten. Er will den Baum einpflanzen. Es ist für ihn ein besonderer Tag.“
    „Empfindet er Freude? Trauer? Ist er allein?“
    „Er empfindet Trauer. Der Baum ist eine Erinnerung.“ Amber spürte die tiefe Trauer des Mannes und seine Furcht vor der Einsamkeit. Plötzlich begann sie, zu frösteln.
    „Ist er allein?“
    „Ich weiß es nicht, kann niemanden sehen, aber irgendjemand spricht mit ihm.“ So sehr Amber sich auch konzentrierte, es wollte ihr nicht gelingen, die Worte zu verstehen. Hinter ihren Schläfen pochte es wieder schmerzhaft.
    „Ist er allein?“
    Die Stimme Hermits dröhnte in ihrem Kopf wie

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