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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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abzählen.»
    «Da haben Sie wohl recht. Mehr oder weniger habe ich es Ihnen doch bereits gesagt, oder?»
    «Solomon Barber ist Ihr Sohn.»
    Effing machte eine lange Pause, als weigerte er sich noch immer zu bestätigen, wohin das Gespräch uns geführt hatte. Er starrte ins Leere, nahm seine dunkle Brille ab und polierte die Gläser mit einem Taschentuch - eine sinnlose, unglaubwürdige Geste für einen Blinden -, dann kam tief aus seiner Kehle ein Grunzen. «Solomon», sagte er. «Wahrlich ein scheußlicher Name. Aber damit hatte ich natürlich nichts zu tun. Jemandem, von dem man nicht weiß, daß es ihn gibt, kann man doch keinen Namen geben, oder?»
    «Haben Sie ihn je gesehen?»
    «Ich habe ihn nie gesehen, und er hat mich nie gesehen. Für ihn ist sein Vater 1916 in Utah gestorben.»
    «Wann haben Sie zum erstenmal von ihm gehört?»
    «1947. Dafür war Pavel Shum verantwortlich, er hat diese Tür aufgestoßen. Eines Tages kam er mit einem Buch über Bishop Berkeley an. Pavel war ja ein großer Leser, wie Sie bestimmt schon von mir gehört haben, und als er anfing, mir von einem jungen Historiker namens Barber zu erzählen, spitzte ich natürlich die Ohren. Da Pavel von meinem früheren Leben nichts wußte, mußte ich also ein Interesse an dem Buch vortäuschen, um mehr über den Mann zu erfahren, der es geschrieben hatte. Zu diesem Zeitpunkt stand ja noch gar nichts fest. Barber ist schließlich kein sehr ungewöhnlicher Name, und ich hatte keinerlei Grund zu der Annahme, dieser Solomon könnte in irgendeiner Beziehung zu mir stehen. Trotzdem hatte ich so eine Ahnung, und wenn ich etwas in meiner langen und dummen Laufbahn als Mensch gelernt habe, dann das, wie wichtig es ist, meinen Ahnungen Gehör zu schenken. Ich erzählte Pavel also ein Märchen, obwohl das vermutlich gar nicht nötig war. Er hätte alles für mich getan. Wenn ich ihn gebeten hätte, zum Nordpol zu gehen, wäre er auf der Stelle losgerannt. Ich brauchte nur ein paar Informationen, fand es aber zu riskant, die Sache zu überstürzen, also erzählte ich ihm, ich hätte vor, eine Stiftung zu gründen, die alljährlich einem verdienstvollen jungen Autor einen Preis verleihen sollte. Dieser Barber scheint vielversprechend, sagte ich, wie war’s, wenn wir uns einmal umhören würden, ob er nicht ein bißchen zusätzliches Geld gebrauchen kann? Pavel war begeistert. Was ihn betraf, konnte man auf der Welt nichts Besseres tun, als das Geistesleben zu fördern.»
    «Aber was war mit Ihrer Frau? Haben Sie nie herausgefunden, wie es ihr ergangen ist? Es dürfte nicht sehr schwierig gewesen sein, herauszufinden, ob sie einen Sohn bekommen hatte oder nicht. Um an derlei Informationen heranzukommen, gibt es doch hundert verschiedene Möglichkeiten.»
    «Zweifellos. Aber ich hatte mir gelobt, über Elizabeth keinerlei Nachforschungen anzustellen. Neugierig war ich - es wäre unmöglich gewesen, nicht neugierig zu sein -, zugleich aber wollte ich diese alte Geschichte nicht wieder aufwärmen. Die Vergangenheit war die Vergangenheit, sie war mir völlig verschlossen. Ob sie lebte oder tot war, ob sie wieder geheiratet hatte oder nicht - was hätte es gebracht, das zu wissen? Ich zwang mich, mir darüber im unklaren zu bleiben. Das brachte eine starke Belastung mit sich, half mir aber, mich daran zu erinnern, wer ich war, mein Bewußtsein für die Tatsache zu schärfen, daß ich jetzt jemand anders war. Nicht zurückblicken - darauf kam es an. Kein Bedauern, kein Mitleid, keine charakterschwachen Gefühlsduseleien. Meine Weigerung, nichts über Elizabeth herausfinden zu wollen, hielt mich bei Kräften.»
    «Aber über Ihren Sohn wollten Sie etwas herausfinden.»
    «Das war etwas anderes. Wenn durch mein Zutun ein Mensch auf die Welt gekommen war, hatte ich auch das Recht, etwas darüber zu erfahren. Ich wollte nur die Tatsachen aufklären, sonst nichts.»
    «Hat Pavel lange gebraucht, um an die Informationen heranzukommen?»
    «Nicht lange. Er spürte Solomon Barber auf und stellte fest, daß er an irgendeinem Provinzcollege im Mittelwesten lehrte - Iowa, Nebraska, ich hab’s vergessen. Pavel schrieb ihm einen Brief über sein Buch, Fanpost sozusagen. Danach ging alles ganz leicht. Barber schickte eine liebenswürdige Antwort, und dann schrieb Pavel ihm zurück, er käme demnächst durch Iowa oder Nebraska und überlege, ob man sich nicht mal treffen könne. Rein zufällig natürlich. Ha! Als ob es so was wie Zufall gäbe! Barber sagte, er würde ihn mit

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