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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Vergnügen kennenlernen, und so geschah es denn. Pavel nahm den Zug nach Iowa oder Nebraska, sie verbrachten einen Abend zusammen, und dann kam Pavel zurück und brachte alles mit, was ich wissen mußte.»
    «Und das war?»
    «Das war: daß Solomon Barber 1917 in Shoreham, Long Island, geboren wurde. Das war: daß sein Vater, ein Maler, vor langer Zeit in Utah gestorben war. Und das war: daß seine Mutter seit 1939 tot war.»
    «Also in dem Jahr gestorben, in dem Sie nach Amerika zurückkehrten.»
    «Offenbar.»
    «Und dann?»
    «Und dann was?»
    «Was geschah dann?»
    «Nichts. Ich sagte Pavel, ich hätte es mir mit der Stiftung anders überlegt, und das war’s.»
    «Und Sie hatten nie das Verlangen, ihn zu sehen? Es fällt mir schwer zu glauben, daß Sie die Sache einfach so auf sich beruhen lassen konnten.»
    «Ich hatte meine Gründe, Junge. Glauben Sie nicht, daß mir das leichtfiel, aber ich blieb dabei. Ich blieb dabei durch dick und dünn.»
    «Wie nobel von Ihnen.»
    «Ja, sehr nobel. Ich bin eben von Kopf bis Fuß ein Edelmann.»
    «Und jetzt?»
    «Trotz allem gelang es mir, seine weitere Laufbahn zu verfolgen. Pavel setzte die Korrespondenz mit ihm fort und hielt mich in all den Jahren über Barbers Aufenthalt auf dem laufenden. Deswegen erzähle ich Ihnen das jetzt. Nach meinem Tod sollen Sie nämlich etwas für mich tun. Die Anwälte könnten es auch, aber es ist mir lieber, wenn Sie das machen. Sie können das besser erledigen als die.»
    «Was haben Sie vor?»
    «Ich werde ihm mein Geld vermachen. Mrs. Hume bekommt natürlich ihren Teil, aber der Rest soll an meinen Sohn gehen. Der arme Tropf hat sein Leben so vermasselt, vielleicht kann ihm das ein wenig helfen. Er ist ein fettes, kinderloses, unverheiratetes, kaputtes Wrack, eine wandelnde, lenkbare Katastrophe. Trotz all seinem Grips und Talent war seine Karriere ein einziger Murks. Mitte der vierziger Jahre flog er wegen irgendeines Skandals aus seinem ersten Job - soviel ich weiß, weil er es mit einem Studenten getrieben hat -, und als er dann gerade wieder auf die Beine kam, geriet er in McCarthys Mühlen und mußte von neuem dran glauben. Er verbrachte sein Leben in den elendesten Provinzkaffs, die man sich vorstellen kann, unterrichtete an Colleges, die kein Mensch auch nur dem Namen nach kennt.»
    «Hört sich jämmerlich an.»
    «Genau das ist es. Jämmerlich. Hundert Prozent jämmerlich.»
    «Aber was soll ich dabei machen? Sie vermachen ihm das Geld in Ihrem Testament, und die Anwälte geben es ihm. Scheint mir doch ganz unkompliziert.»
    «Ich möchte, daß Sie ihm mein Selbstporträt schicken. Was glauben Sie, warum wir so hart daran gearbeitet haben? Doch nicht zum Zeitvertreib, Junge, sondern zu einem bestimmten Zweck. Alles, was ich tue, hat seinen Zweck, vergessen Sie das nicht. Wenn ich tot bin, sollen Sie es ihm zusammen mit einem Begleitbrief schicken, worin Sie erklären, wie es zustande gekommen ist. Ist das klar?»
    «Nicht ganz. Seit 1947 haben Sie Distanz zu ihm gehalten, und da verstehe ich nicht, warum Sie jetzt plötzlich so wild darauf sind, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Das ist mir völlig unverständlich.»
    «Jeder hat das Recht, über seine Vergangenheit Bescheid zu wissen. Ich kann nicht viel für ihn tun, aber immerhin das kann ich für ihn tun.»
    «Auch wenn er es vielleicht lieber nicht wüßte?»
    «Allerdings, auch wenn er es vielleicht lieber nicht wüßte.»
    «Das scheint mir nicht fair.»
    «Wer redet hier von Fairneß? Damit hat das nichts zu tun. Zu meinen Lebzeiten habe ich mich von ihm ferngehalten, aber jetzt, wo ich tot bin, soll die Sache ans Licht kommen.»
    «Sehr tot sehen Sie mir nicht aus.»
    «Das kommt noch, ich versprech’s Ihnen. Es ist schon bald soweit.»
    «Das sagen Sie schon seit Monaten, aber Sie sind noch immer so gesund wie eh und je.»
    «Welcher Tag ist heute?»
    «Der 12. März.»
    «Dann bleiben mir noch zwei Monate. Genau heute in zwei Monaten, am 12. Mai, werde ich sterben.»
    «Das können Sie unmöglich wissen. Niemand kann das.»
    «Aber ich kann es, Fogg. Lassen Sie es sich gesagt sein. Heute in zwei Monaten werde ich sterben.»
    Nach diesem merkwürdigen Gespräch machten wir wieder im alten Trott weiter. Vormittags las ich ihm vor, und nachmittags schob ich ihn spazieren. Es war dasselbe Programm wie früher, und doch kam es mir jetzt anders vor. Früher war Effing bei den Büchern planmäßig vorgegangen, aber jetzt schien mir seine Auswahl willkürlich und völlig

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