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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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keine dunklen Wahrheiten mehr zu entreißen. Die wichtigsten Umwälzungen in Effings Leben hatten in Amerika stattgefunden, in den Jahren zwischen seiner Abreise nach Utah und dem Unfall in San Francisco, und nachdem er in Europa angekommen war, wurde die Geschichte ziemlich gewöhnlich, eine Chronologie von Fakten und Ereignissen, ein Bericht vom Vergehen der Zeit. Effing war sich dessen bewußt, und wenn er es auch nicht offen zugab, so spürte ich doch, daß seine Erzählweise sich zu ändern begann und bald nicht mehr so präzise und eindringlich war wie zu Beginn. Er schweifte jetzt öfter ab, schien öfter den Faden zu verlieren und leistete sich sogar einige ausgemachte Widersprüche. Zum Beispiel behauptete er einmal, er habe diese Jahre im Müßiggang verbracht - Bücher gelesen, Schach gespielt, in Bistros gesessen -, und am nächsten Tag verwarf er das alles und erzählte mir von komplizierten geschäftlichen Unternehmungen, von Bildern, die er gemalt und dann zerstört habe, von einem Buchladen, den er betrieben habe, von seiner Arbeit als Geheimagent, von seinen Bemühungen, Geld für die Republikanische Armee in Spanien aufzutreiben. Es stand außer Zweifel, daß er log, doch hatte ich den Eindruck, dies geschehe eher aus Gewohnheit als in der Absicht, mich zu täuschen. Gegen Ende sprach er mit bewegenden Worten von seiner Freundschaft mit Pavel Shum, erzählte mir in allen Einzelheiten, wie er sein Sexualleben trotz seines Zustands aufrechterhalten habe, und erging sich in etlichen langwierigen Predigten über seine Theorien vom Universum: die Elektrizität der Gedanken, der Zusammenhalt der Materie, die Seelenwanderung. Am letzten Tag erzählte er mir, wie es ihm und Pavel gelungen war, vor dem Einmarsch der Deutschen aus Paris zu fliehen, wiederholte noch einmal die Geschichte von seiner erneuten Begegnung mit Tesla im Bryant Park und machte dann völlig unvermittelt Schluß.
    «Das reicht», sagte er. «Damit lassen wir’s bewenden.»
    «Aber wir haben noch eine Stunde bis zum Mittagessen», sagte ich nach einem Blick zur Uhr auf dem Kamin. «Noch genug Zeit, um mit der nächsten Episode anzufangen.»
    «Widersprechen Sie mir nicht, Junge. Wenn ich sage, daß wir fertig sind, dann sind wir fertig.»
    «Aber wir sind erst im Jahr 1939. Wir haben noch dreißig Jahre zu erledigen.»
    «Die sind belanglos. Die können Sie mit ein paar Sätzen abtun.     «Sie meinen also nicht nur heute. Sondern die ganze Geschichte. Sie wollen sagen, daß wir damit fertig sind?»
    «Ich habe mich deutlich genug ausgedrückt.»
    «Schon gut, jetzt verstehe ich. Es leuchtet mir zwar noch immer nicht ein, aber ich verstehe.»
    «Unsere Zeit wird langsam knapp, Sie Idiot, das ist der Grund. Wenn wir jetzt nicht anfangen, den verdammten Nachruf zu schreiben, wird er nie fertig werden.»
    In den nächsten zwanzig Tagen saß ich jeden Vormittag in meinem Zimmer und tippte auf der alten Underwood die verschiedenen Fassungen von Effings Lebensgeschichte. Eine Kurzfassung, die an die Zeitungen verschickt werden sollte, fünfhundert trockene Worte, die nur die oberflächlichsten Tatsachen streiften; eine ausführlichere Fassung mit dem Titel «Das geheimnisvolle Leben des Julian Barber», ein rund dreitausend Worte umfassender, ziemlich reißerischer Bericht, den ich nach Effings Tod bei einer Kunstzeitschrift abliefern sollte; und schließlich eine überarbeitete Fassung der kompletten Mitschrift, Effings Geschichte, wie er sie selbst erzählt hatte. Insgesamt über hundert Seiten, und diese Fassung machte mir die meiste Mühe; sorgfältig mußte ich Wiederholungen und vulgäre Ausdrücke streichen, Sätze auf den Punkt bringen, gesprochene Rede in Schriftsprache übertragen, ohne ihre Kraft zu mindern. Das war ein schwieriger und heikler Prozeß, wie ich herausfand; in vielen Fällen mußte ich ganze Passagen fast vollständig umbauen, wenn ihre ursprüngliche Bedeutung erhalten bleiben sollte. Was Effing mit dieser Autobiographie (denn strenggenommen war dies kein Nachruf mehr) im Sinn hatte, war mir nicht bekannt, aber ihm lag offenbar viel daran, daß sie sich gut lesen ließ, und er machte mir die Korrekturarbeiten nicht leicht, schrie und schimpfte, wann immer ich ihm einen Satz vorlas, der ihm nicht gefiel. Viele Nachmittage lang

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