Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Wirkung auf ihn gehabt, doch da er seinen Angreifer nicht gesehen hatte, da er niemals erfuhr, warum er überhaupt attackiert worden war, konnte er das Ganze nur als eine Form kosmischer Vergeltung auffassen. Die reinste Gerechtigkeit war ihm zuteil geworden; ein schwerer und anonymer Schlag war vom Himmel gekommen und hatte ihn willkürlich und gnadenlos zerschmettert. Er hatte keine Zeit gehabt, sich zu verteidigen oder seine Sache zu vertreten. Ehe er wußte, daß der Prozeß begonnen hatte, war er vorbei, das Urteil gefällt, der Richter aus dem Gerichtssaal verschwunden.
    Neun Monate brauchte er zu seiner Genesung (soweit man von Genesung sprechen konnte), und dann bereitete er sich darauf vor, das Land zu verlassen. Er verkaufte sein Haus, transferierte sein Vermögen auf ein Schweizer Nummernkonto und kaufte bei einem Mann, der Verbindungen zu den Anarcho-Syndikalisten hatte, einen falschen Paß auf den Namen Thomas Effing. Die Palmer-Razzien waren damals in vollem Gang, Wobblies wurden gelyncht, Sacco und Vanzetti saßen in Haft, und die meisten Mitglieder radikaler Gruppen waren untergetaucht. Der Paßfälscher war ein ungarischer Einwanderer, der von einem vollgestopften Kellerraum in der Botschaft aus operierte, und Effing mußte teuer für das Dokument bezahlen, wie er sich erinnerte. Der Mann war am Rande des Nervenzusammenbruchs, und da er Effing für einen Geheimagenten hielt, der ihn nach beendeter Arbeit verhaften würde, zögerte er die Sache um mehrere Wochen hinaus und kam jedesmal mit einer anderen weithergeholten Ausrede an, wenn ein Termin verstrichen war. Zugleich setzte er auch den Preis immer weiter herauf, aber da Geld damals zu Effings geringsten Sorgen gehörte, löste er schließlich das Dilemma, indem er dem Mann anbot, seinen höchsten Verkaufspreis noch zu verdoppeln, wenn er den Paß pünktlich um neun Uhr am nächsten Morgen haben könne. Dieser Verlockung konnte der Ungar nicht widerstehen - es ging um über achthundert Dollar - , und als Effing ihm am nächsten Morgen das Geld aushändigte und ihn nicht verhaftete, brach der Anarchist weinend zusammen und küßte ihm in hysterischer Dankbarkeit die Hand. Das war für zwanzig Jahre Effings letzte Begegnung mit irgendwem in Amerika, und die Erinnerung an diesen erschütterten Mann hat ihn nie losgelassen. Er glaubte, das ganze Land sei zum Teufel gegangen, und es gelang ihm, sich ohne jedes Bedauern davon zu verabschieden.
    Im September 1920 ging er an Bord von S.S. Descartes und fuhr durch den Panamakanal nach Frankreich. Es gab keinen besonderen Grund, ausgerechnet nach Frankreich zu gehen, es sprach aber auch nichts dagegen. Eine Zeitlang hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich in irgendeine abgelegene Kolonie zurückzuziehen - nach Mittelamerika vielleicht, oder auf eine Insel im Pazifik -, aber die Vorstellung, den Rest seines Lebens im Dschungel zu verbringen, konnte ihn nicht reizen, selbst wenn er sich ausmalte, von unschuldigen Eingeborenen als kleiner König vergöttert zu werden. Er wollte nicht ins Paradies, sondern bloß in ein Land, das ihn nicht langweilte. England kam nicht in Frage (er verabscheute die Engländer), und obwohl die Franzosen nicht viel besser waren, dachte er noch immer gern an das Jahr zurück, das er als junger Mann in Paris verbracht hatte. Auch Italien reizte ihn, aber die Tatsache, daß Französisch die einzige Fremdsprache war, die er halbwegs fließend sprechen konnte, gab schließlich den Ausschlag für Frankreich. Immerhin würde er dort gut essen und guten Wein zu trinken bekommen. Zwar würde er in Paris mit großer Wahrscheinlichkeit auf ehemalige Künstlerfreunde aus New York stoßen, aber die Aussicht auf solche Begegnungen schreckte ihn nicht mehr. Seit dem Unfall war das alles anders. Julian Barber war tot. Er war kein Künstler mehr, er war überhaupt niemand mehr. Nur noch Thomas Effing, ein verkrüppelter, an den Rollstuhl gefesselter Exilant; und sollte ihm jemand wegen seiner Identität zu nahe treten, würde er ihn zum Teufel schicken. So einfach war das. Es war ihm egal, was die Leute dachten, und wenn er ab und zu eine Lüge über sich aussprechen müßte, nun gut, dann würde er eben lügen. Das Ganze war sowieso ein fauler Zauber, deshalb kam es darauf auch nicht mehr an.
    Er berichtete noch zwei oder drei Wochen lang weiter, aber die Erzählung fesselte mich nicht mehr so wie am Anfang. Alles Wesentliche war gesagt; es gab keine Geheimnisse mehr zu enthüllen, es waren ihm

Weitere Kostenlose Bücher