Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
zusammenhanglos. Bat er mich an einem Tag, ihm Erzählungen aus dem Dekameron oder aus Tausendundeiner Nacht vorzulesen, konnte es am nächsten Tag Die Komödie der Irrungen sein, und wieder einen Tag später wollte er von Büchern überhaupt nichts wissen und ließ mich die Berichte vom Frühjahrstraining in den Baseball-Trainingslagern von Florida vorlesen. Vielleicht hatte er ja beschlossen, die Dinge von nun an aufs Geratewohl auszuwählen, leichten Sinnes über eine Vielzahl von Werken hinzuhuschen, um sich von ihnen zu verabschieden, als ob er sich damit von der Welt verabschieden könnte. Drei oder vier Tage hintereinander mußte ich ihm pornographische Romane vorlesen (die in einem Kabinett hinter dem Bücherregal versteckt waren), doch selbst diese Bücher vermochten ihn auf keinerlei wahrnehmbare Weise zu erregen. Ein paarmal kicherte er amüsiert, aber er brachte es auch fertig, mitten in einer der heißesten Passagen einzuschlafen. Während er schlief, las ich weiter, und als er eine halbe Stunde später aufwachte, sagte er mir, er habe das Totsein geübt. «Wenn ich sterbe, will ich Sex im Kopf haben», murmelte er. «Einen besseren Abgang gibt es nicht.» Ich selbst hatte noch nie zuvor Pornographisches gelesen und fand die Bücher gleichzeitig absurd und erregend. Eines Tages prägte ich mir einige der besten Stellen ein und trug sie Kitty vor, als ich sie am Abend besuchte. Auf sie schienen sie genauso zu wirken. Sie mußte lachen, verspürte aber gleichzeitig den Drang, sich auszuziehen und ins Bett zu steigen.
    Auch die Spaziergänge waren jetzt anders als früher. Effing zeigte sich nicht mehr sonderlich begeistert davon, drängte mich nicht mehr, die Dinge, auf die wir stießen, zu beschreiben, sondern saß schweigend, nachdenklich und verschlossen in seinem Rollstuhl. Aus Gewohnheit gab ich weiterhin meine fortlaufenden Kommentare ab, aber er schien mir kaum zuzuhören; seine boshaften und kritischen Bemerkungen fehlten mir geradezu, und langsam spürte ich, wie auch meine Stimmung sank. Zum erstenmal, seit ich ihn kannte, schien Effing geistesabwesend, losgelöst von den Dingen in seiner Umgebung, fast friedlich. Ich sprach mit Mrs. Hume über diese Verwandlung, und sie gestand, daß auch sie sich deswegen Sorgen machte. An seinem physischen Zustand bemerkten wir beide jedoch keine größeren Veränderungen. Er aß so viel oder wenig, wie er immer gegessen hatte; sein Stuhlgang war normal; er ließ keine Klagen über neue Schmerzen oder Beschwerden verlauten. Diese seltsam lethargische Phase dauerte ungefähr drei Wochen. Und dann, als ich schon zu glauben begann, es ginge ernstlich bergab mit Effing, kam er eines Morgens wieder ganz wie der alte an den Frühstückstisch, er strotzte vor guter Laune und sah so glücklich aus wie in seinen besten Zeiten.
    «Es ist entschieden!» verkündete er und schlug so kräftig mit der Faust auf den Tisch, daß das Silberbesteck klappernd hochsprang. «Tag für Tag habe ich darüber gebrütet, es im Kopf herumgewälzt, den perfekten Plan zu machen versucht. Nach vieler geistiger Mühe kann ich nun mit Freuden vermelden, daß die Sache feststeht. Fest! Bei Gott, das ist die beste Idee, die ich je gehabt habe. Ein Meisterwerk, ein vollkommenes Meisterwerk. Sind Sie zu einem kleinen Spaß bereit, Junge?»
    «Selbstverständlich», sagte ich, da es mir ratsam schien, ihm seinen Willen zu lassen. «Zu einem kleinen Spaß bin ich immer bereit.»
    «Ausgezeichnet, das ist die richtige Einstellung», sagte er und rieb sich die Hände. «Ich verspreche euch, meine Kinder, das wird ein großartiger Schwanengesang, ein unvergleichlicher Schlußakkord. Wie sieht es heute draußen aus?»
    «Klar und frisch», sagte Mrs. Hume. «Der Mann im Radio sagte, heute nachmittag könnten es zwölf Grad werden.»
    «Klar und frisch», sagte er, «um zwölf Grad. Besser könnte es nicht sein. Und das Datum, Fogg, wo befinden wir uns auf dem Kalender?»
    «1. April, der Beginn eines neuen Monats.»
    «Der 1. April! Der Tag der Streiche und Possen. In Frankreich nannte man das den Tag des Fischs. Nun, wir werden denen ein paar Fische zum Beschnüffeln geben, was, Fogg? Einen ganzen Korb voll!»
    «Und ob», sagte ich. «Denen werden wir es zeigen.»
    In diesem aufgeregten Ton schwatzte Effing während des ganzen Frühstücks weiter und legte dabei kaum einmal eine Pause ein, um sich den Haferbrei in den Mund zu löffeln. Mrs. Hume zog ein besorgtes Gesicht, ich aber fühlte mich trotz

Weitere Kostenlose Bücher