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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Veröffentlichung des Artikels hätte dieses innere Bild zerstört, und das schien mir die Sache nicht wert. Mochte Julian Barber ein noch so großer Künstler gewesen sein, seine Bilder konnten unmöglich an diejenigen heranreichen, die Thomas Effing mir bereits eingegeben hatte. Ich hatte sie mir aus seinen Worten zusammengeträumt, und als solche waren sie perfekt, grenzenlos, exakter in ihrer Darstellung des Wirklichen als die Wirklichkeit selbst. Solange ich meine Augen geschlossen hielt, konnte ich sie mir ewig so vorstellen.
    Ich verlebte meine Tage in herrlicher Trägheit. Von den einfachen Arbeiten im Haushalt abgesehen, hatte ich keine nennenswerten Pflichten. Siebentausend Dollar waren damals eine beträchtliche Menge Geld, und vorläufig drängte mich nichts, irgendwelche Pläne zu machen. Ich fing wieder mit dem Rauchen an, ich las Bücher, ich durchstreifte die Straßen von Lower Manhattan, ich führte ein Tagebuch. Aus diesem Geschmier entstanden einige kurze Essays, kleine Prosaausbrüche, die ich, sobald sie fertig waren, Kitty vorzulesen pflegte. Seitdem ich sie bei unserer allerersten Begegnung mit meiner Predigt über Cyrano so beeindruckt hatte, war sie davon überzeugt, daß ich Schriftsteller werden würde, und jetzt, da ich mich täglich mit einem Stift in der Hand an den Tisch setzte, schien es, als hätte ihre Prophezeiung sich erfüllt. Von allen Schriftstellern, die ich gelesen hatte, inspirierte Montaigne mich am meisten. Wie er versuchte ich meine eigenen Erfahrungen als Gerüst für meine Texte zu verwenden, und auch wenn der Stoff mich auf ein ziemlich abgelegenes und abstraktes Terrain führte, hatte ich nicht so sehr das Gefühl, irgend etwas Maßgebliches über diese Gegenstände zu sagen, sondern eher, eine untergründige Version meiner eigenen Lebensgeschichte zu schreiben. Ich kann mich nicht mehr an jedes einzelne dieser Stücke erinnern, aber zumindest einige davon fallen mir wieder ein, wenn ich scharf genug darüber nachdenke: zum Beispiel eine Betrachtung über das Geld und eine andere über Kleider; ein Essay über Waisen und ein etwas längeres Stück über den Selbstmord, in dem ich mich hauptsächlich mit Jacques Rigaut auseinandersetzte, einem unbedeutenden französischen Dadaisten, der im Alter von neunzehn Jahren verkündet hatte, ergebe sich noch zehn Jahre zu leben, und dann mit neunundzwanzig Wort hielt und sich am festgesetzten Tag erschoß. Ich erinnere mich auch, daß ich für ein Projekt, das sich mit dem Thema Maschinen kontra Natur befassen sollte, ein paar Nachforschungen über Tesla anstellte. Als ich eines Tages in einem Antiquariat an der Fourth Avenue herumstöberte, fand ich zufällig eine Ausgabe von Teslas Autobiographie My Inventions, die ursprünglich 1919 in der Zeitschrift The Electrical Engineer erschienen war. Ich nahm den kleinen Band mit nach Hause und begann ihn zu lesen. Nach ein paar Seiten stieß ich auf genau den Satz, den ich knapp ein Jahr zuvor in meinem Glücksplätzchen im Moon Palace gefunden hatte: «Die Sonne ist die Vergangenheit, die Erde ist die Gegenwart, der Mond ist die Zukunft.» Ich hatte den Zettel noch in meiner Brieftasche, und die Erkenntnis, daß Tesla, der Effing so viel bedeutet hatte, der Verfasser dieser Worte war, wühlte mich auf. Die Parallelität dieser Ereignisse schien mir bedeutungsvoll, doch fiel es mir schwer zu begreifen, in welcher Hinsicht. Es war, als hörte ich mein Schicksal nach mir rufen, aber sobald ich die Ohren spitzte, erkannte ich, daß es in einer Sprache redete, die ich nicht verstand. Hatte irgendein Arbeiter in einer chinesischen Glücksplätzchenfabrik Teslas Buch gelesen? Das schien kaum glaublich, und selbst wenn, wieso hatte ausgerechnet ich das Plätzchen mit ausgerechnet dieser Botschaft genommen? Ich konnte mir nicht helfen, aber das mußte mich einfach beunruhigen. Ich stand vor einem Knoten von Unergründlichkeiten, den allenfalls ziemlich verrückte Erklärungen lösen zu können schienen: seltsame Verschwörungen der Materie, prophetische Zeichen, Vorahnungen - eine Weltsicht, die der von Charlie Bacon nicht unähnlich war. Ich brach meinen Essay über Tesla ab und begann mich mit dem Problem des Zufalls zu beschäftigen, kam aber nicht sehr weit damit. Das Thema war mir zu hoch, und am Ende legte ich es beiseite und sagte mir, ich würde später noch einmal darauf zurückkommen. Wie es der Zufall wollte, ist dies aber nie geschehen.
    Kittys Vorlesungen an der Juilliard

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