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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sehr verbreiteter Name», sagte ich. «Aber ein paar von uns gibt es.»
    «Diese Person hat in den vierziger Jahren bei mir studiert. Ich hatte damals gerade angefangen zu unterrichten.»
    «Erinnern Sie sich noch an seinen Vornamen?»
    «Ja, daran erinnere ich mich, aber es war kein Mann, sondern eine junge Frau. Emily Fogg. Sie studierte im ersten Semester amerikanische Geschichte bei mir.» «Wissen Sie, woher sie kam?»
    «Aus Chicago. Ich glaube, aus Chicago.»
    «Meine Mutter hieß Emily, und sie stammte aus Chicago. Könnte es zwei Emily Foggs aus derselben Stadt am selben College gegeben haben?»
    «Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Die Ähnlichkeit ist zu groß. Ich habe Sie gleich wiedererkannt, als Sie hier hereinkamen.»
    «Ein Zufall nach dem anderen», sagte ich. «Das Universum scheint voll davon.»
    «Ja, manchmal ist es recht verblüffend», sagte Barber, der schon wieder seinen Gedanken nachhing. Mit offensichtlicher Mühe riß er sich nach einigen Sekunden zusammen und sprach weiter. «Ich hoffe, Sie nehmen an meiner Frage keinen Anstoß», sagte er, «aber wie kommt es eigentlich, daß Sie den Mädchennamen Ihrer Mutter tragen?»
    «Mein Vater starb, bevor ich geboren wurde, und danach nannte meine Mutter sich wieder Fogg.»
    «Verzeihen Sie. Ich wollte nicht schnüffeln.»
    «Schon gut. Ich habe meinen Vater nie gekannt, und meine Mutter ist seit Jahren tot.»
    «Ja, ich habe davon gehört, kurz nachdem es passiert ist. Irgendein Verkehrsunfall, glaube ich. Eine schreckliche Tragödie. Muß furchtbar für Sie gewesen sein.»
    «Sie wurde in Boston von einem Bus überfahren. Ich war damals noch ein kleiner Junge.»
    «Eine schreckliche Tragödie», wiederholte Barber, indem er wieder die Augen schloß. «Ihre Mutter war ein schönes und intelligentes Mädchen. Ich erinnere mich gut an sie.»
    Als Barber zehn Monate später in einem Chicagoer Krankenhaus mit gebrochenem Rückgrat im Sterben lag, erzählte er mir, daß er die Wahrheit bereits bei diesem ersten Gespräch im Hotelfoyer geahnt habe. Er sei nur deshalb nicht gleich damit herausgerückt, weil er glaubte, mich damit zu verschrecken. Er kannte mich ja noch nicht und konnte unmöglich voraussehen, wie ich auf eine so plötzliche, umwälzende Eröffnung reagieren würde. Um zu begreifen, wie wichtig es war, den Mund zu halten, brauchte er sich die Szene nur vorzustellen. Ein 350 Pfund schwerer Fremder lädt mich in ein Hotel ein, schüttelt mir die Hand, und anstatt über das zu reden, weswegen ich gekommen bin, sieht er mir in die Augen und erklärt mir, er sei mein verloren geglaubter Vater. Die Versuchung war groß, aber das hätte ich ihm niemals abgekauft. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte ich ihn für einen Irren gehalten und mich geweigert, weiter mit ihm zu sprechen. Da wir noch jede Menge Zeit hatten, einander kennenzulernen, wollte er sich die Gelegenheit dazu nicht dadurch nehmen, daß er eine Szene heraufbeschwor. Was sich wie so vieles in der Geschichte, die ich zu erzählen versuche, als Fehler herausstellte. Im Gegensatz zu Barbers Erwartungen war uns nicht mehr viel Zeit beschieden. Er hoffte, die Zukunft werde unser Problem lösen, aber dann fand die Zukunft gar nicht mehr statt. Das konnte man ihm zwar kaum anlasten, aber zu zahlen hatte er doch dafür, so wie ich zusammen mit ihm dafür zu zahlen hatte. Trotz der Folgen wüßte ich freilich nicht, wie er sich anders hätte verhalten sollen. Niemand konnte wissen, was geschehen würde; niemand konnte die dunklen und schrecklichen Dinge ahnen, die uns blühten.
    Selbst heute noch überwältigt mich das Mitleid, wenn ich an Barber denke. Wenn ich meinen Vater auch nie kennengelernt hatte, so wußte ich doch immerhin, daß da einmal ein Vater gewesen war. Irgendwoher muß ein Kind ja schließlich kommen, und der Mann, der dieses Kind zeugt, wird wohl oder übel Vater genannt. Barber hingegen wußte gar nichts. Er hatte nur ein einziges Mal mit meiner Mutter geschlafen (in einer feuchten sternenlosen Nacht im Frühjahr 1946), und tags darauf war sie schon weg, für immer aus seinem Leben verschwunden. Er wußte nicht, daß sie schwanger geworden war, er wußte nicht, daß er einen Sohn hatte, er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er vollbracht hatte. In Anbetracht der folgenden Katastrophe wäre es nur recht und billig gewesen, wenn er einen Ausgleich für seine Qualen erhalten hätte, und wenn es nur das Wissen um die Folgen seiner Tat gewesen wäre. An jenem

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