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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Anspielung auf die Erbschaft, die sie erhalten sollte), werde sie mit Charlie nach Florida umziehen und ein neues Leben beginnen. Vielleicht zum fünfzigstenmal erklärte sie mir, ich könne gern so lange ich wolle in der Wohnung bleiben, worauf ich ihr zum fünfzigstenmal erklärte, daß ich bei einem Freund von Kitty wohnen könne. Was ich denn vorhabe, wollte sie wissen. Was ich mit mir anfangen wolle. Es war nicht nötig, ihr darüber etwas vorzumachen. «Ich bin mir nicht sicher», sagte ich. «Ich muß darüber nachdenken. Aber es wird sich schon bald etwas ergeben.»
    Als wir voneinander Abschied nahmen, gab es Tränen und leidenschaftliche Umarmungen. Wir versprachen uns, in Kontakt zu bleiben, aber daraus wurde natürlich nichts; seitdem habe ich sie nie mehr gesehen.
    «Sie sind ein feiner junger Gentleman», sagte sie mir an der Tür, «und ich werde nie vergessen, wie gut Sie zu Mr. Thomas waren. Die Hälfte der Zeit hat er solche Freundlichkeit gar nicht verdient gehabt.»
    «Jeder hat Freundlichkeit verdient», sagte ich. «Egal wer.»
    Kitty und ich waren bereits durch die Tür und auf dem Korridor, als Mrs. Hume noch einmal hinter uns hergewalzt kam. «Fast hätt ich’s vergessen», sagte sie, «ich soll Ihnen doch noch etwas geben.»
    Wir gingen in die Wohnung zurück, wo Mrs. Hume den Schrank im Flur aufmachte und aus dem obersten Regal eine zerknautschte braune Einkaufstüte holte. «Das hat mir Mr. Thomas im vorigen Monat gegeben», sagte sie. «Ich sollte es für Sie aufbewahren, bis Sie das Haus verlassen.»
    Ich wollte mir schon die Tüte unter den Arm klemmen und wieder gehen, aber Kitty hielt mich auf. «Bist du nicht neugierig, was da drin ist?» fragte sie.
    «Ich dachte, ich sehe erst nach, wenn wir draußen sind», sagte ich. «Falls es eine Bombe ist.»
    Mrs. Hume lachte. «Das würde ich dem alten Geier glatt zutrauen», sagte sie.
    «Eben. Ein letzter Streich aus dem Jenseits.»
    «Also dann mach ich die Tüte auf, wenn du es nicht tust», sagte Kitty. «Vielleicht ist ja auch was Nettes drin.»
    «Da sehen Sie, was für eine Optimistin sie ist», sagte ich zu Mrs. Hume. «Hofft immer auf das Beste.»
    «Lassen Sie sie nachsehen», mischte Charlie sich ungeduldig ins Gespräch. «Ich wette, da ist ein wertvolles Geschenk drin.»
    «Na schön», sagte ich und reichte Kitty die Tüte. «Ich bin überstimmt, also sollst du die Ehre haben.»
    Mit unnachahmlicher Bedachtsamkeit zog Kitty das zusammengeknüllte obere Ende der Tüte auseinander und spähte hinein. Als sie wieder zu uns aufsah, hielt sie einen Augenblick lang verwirrt inne, und dann erschien ein breites, triumphierendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Ohne ein Wort zu sagen, drehte sie die Tüte um und ließ den Inhalt auf den Boden flattern. Es war Geld, ein endloser Schauer zerknäulter alter Scheine. Schweigend sahen wir zu, wie die Zehner, Zwanziger und Fünfziger zu unseren Füßen landeten. Alles in allem waren es über siebentausend Dollar.

 
SECHSTES KAPITEL
     
    Nun folgte eine außerordentliche Zeit. In den nächsten acht oder neun Monaten führte ich ein Leben, wie es mir früher nie möglich gewesen war, und gegen Ende dieser Phase kam ich dem Paradies auf Erden wohl näher als je zuvor in all den Jahren, die ich auf diesem Planeten verbracht habe. Es war nicht nur das Geld (obwohl das Geld nicht zu unterschätzen ist), sondern auch die Plötzlichkeit, mit der sich alles für mich gewendet hatte. Effings Tod hatte mich aus seiner Knechtschaft befreit, andererseits aber hatte Effing selbst mich aus der Knechtschaft der Welt befreit, und da ich jung war und noch so wenig von der Welt wußte, vermochte ich nicht zu begreifen, daß diese Zeit des Glücks je zu einem Ende kommen könnte. Ich hatte mich in der Wüste verirrt, und dann hatte ich aus heiterem Himmel mein Kanaan entdeckt, mein Gelobtes Land. Da konnte ich fürs erste nur frohlocken, dankbar auf die Knie fallen und den Boden küssen. Es war noch zu früh, daran zu denken, daß irgend etwas davon zerstört werden konnte, zu früh, sich mit dem Exil zu befassen, das in der Zukunft lag.
    Etwa eine Woche nachdem ich das Geld erhalten hatte, war Kittys Schuljahr vorbei, und Mitte Juni hatten wir eine Wohnung gefunden. Für weniger als dreihundert Dollar im Monat gründeten wir in einem großen staubigen Speicher am East Broadway, nicht weit vom Chatham Square und der Manhattan Bridge, einen gemeinsamen Hausstand. Das Haus lag mitten in Chinatown, und Kitty nutzte

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