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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ihre chinesischen Beziehungen, um die nötigen Abmachungen zu treffen und den Vermieter breitzuschlagen, uns einen Mietvertrag über fünf Jahre zu geben, worin uns für etwaige bauliche Verbesserungen, die wir vornahmen, ein Mietnachlaß zugesichert wurde. Es war 1970, und abgesehen von ein paar Malern und Bildhauern, die Speicher zu Ateliers umgebaut hatten, war in New York noch kaum jemand auf die Idee gekommen, in alten Geschäftsgebäuden zu wohnen. Kitty brauchte den Platz zum Tanzen (es waren etwa hundertneunzig Quadratmeter), und mich selbst begeisterte die Aussicht, ein ehemaliges Lagerhaus mit freiliegenden Rohrleitungen und rostiger Blechdecke zu bewohnen.
    Ofen und Kühlschrank kauften wir in einem Secondhand-Laden an der Lower East Side, dann ließen wir im Badezimmer eine primitive Dusche und einen Boiler installieren. Nachdem wir die Straßen nach Sperrmüll abgesucht hatten - so kamen wir zu einem Tisch, einem Bücherregal, drei oder vier Stühlen, einer wackligen grünen Kommode -, kauften wir uns eine Schaumstoffmatratze und einige Küchengerätschaften. Die Möbel änderten an der Gewaltigkeit des Raums so gut wie nichts, doch da wir beide etwas gegen Unordnung hatten, gaben wir uns mit dieser absoluten Mindestausstattung zufrieden und kauften nichts weiter hinzu. Anstatt übertrieben viel Geld für den Speicher auszugeben - alles in allem waren es nur knapp tausend Dollar -, zog ich lieber mit Kitty los, um neue Kleider anzuschaffen. Nachdem ich mich in weniger als einer Stunde mit allem Nötigen eingedeckt hatte, verbrachten wir den Rest des Tages mit der Suche nach dem perfekten Kleid für Kitty. Doch erst als wir nach dem Besuch vieler Läden wieder nach Chinatown kamen, fanden wir es schließlich: einen silbernen chipao in schimmerndem Indigo, verziert mit roter und schwarzer Stickerei. Ein Drachenlady-Kostüm wie aus dem Bilderbuch, an einer Seite geschlitzt und herrlich straff um Hüften und Brüste. Es war unverschämt teuer, und ich erinnere mich, daß ich Kitty den Arm verdrehen mußte, damit sie es mich kaufen ließ, aber was mich betraf, so war das Geld gut angelegt, und ich wurde nie müde, sie in diesem Kleid zu sehen. Wenn es einmal zu lange im Schrank gehangen hatte, dachte ich mir irgendeinen Vorwand zum Besuch eines anständigen Restaurants aus, nur um das Vergnügen zu haben, sie es anziehen zu sehen. Kitty hatte für meine schmutzigen Gedanken immer viel Verständnis, und nachdem sie erst einmal die Tiefe meiner Leidenschaft für dieses Kleid begriffen hatte, trug sie es auch an gewissen Abenden, an denen wir zu Hause blieben - streifte es als Vorspiel zur Verführung schweigsam über ihren nackten Körper.
    Chinatown war für mich wie Ausland, und jedesmal, wenn ich dort durch die Straßen ging, überwältigte mich ein Gefühl von Fremdheit und Verlegenheit. Das war Amerika, aber ich verstand weder die Sprache der Leute noch den Sinn der Dinge, die ich sah. Selbst nachdem ich einige der Ladenbesitzer in der Nachbarschaft näher kennengelernt hatte, ging unsere Kommunikation kaum über ein höfliches Lächeln und wilde Gesten hinaus, eine Zeichensprache ohne jeden realen Inhalt. Ich gelangte einfach nicht hinter die stummen Oberflächen der Dinge, und dieses Ausgeschlossensein vermittelte mir manchmal das Gefühl, in einer Traumwelt zu leben, mich inmitten von Gespenstern zu bewegen, die allesamt Masken vor den Gesichtern trugen. Wider Erwarten machte mir dieses Außenseiterdasein aber nichts aus. Es war eine seltsam belebende Erfahrung, und je länger ich dort lebte, desto neuartiger schien mir all das, was mir dort begegnete. Ich hatte nicht das Gefühl, in einen anderen Stadtteil umgezogen zu sein. Ich war vielmehr um die halbe Welt gereist, um dort hinzukommen, wo ich jetzt war, und da war es nur logisch, daß mir nichts mehr, nicht einmal ich selbst, vertraut vorkam.
    Nachdem wir uns in dem Speicher eingerichtet hatten, besorgte Kitty sich für den Rest des Sommers einen Job. Ich versuchte ihr das auszureden, wollte ihr lieber selbst das Geld geben und ihr ersparen, zur Arbeit zu gehen, aber das schlug sie aus. Sie wolle mir nichts schuldig sein, sagte sie, sie habe etwas gegen die Vorstellung, sich von mir aushalten zu lassen. Wichtig sei vor allem, das Geld zusammenzuhalten, es so langsam wie möglich auszugeben. Kitty war in diesen Dingen zweifellos klüger als ich, und so fügte ich mich ihrer überlegenen Vernunft. Sie meldete sich bei einer Zeitarbeitsagentur, und

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