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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Morgen war die Putzfrau ohne anzuklopfen hereingekommen, und da sie den Schrei, der aus ihrer Kehle drang, nicht unterdrücken konnte, waren bereits sämtliche Bewohner des Internats zu ihnen ins Zimmer gestürzt, ehe sie sich auch nur die Kleider anziehen konnten. Wäre es nur die Putzfrau gewesen, hätten sie vielleicht irgendeine Geschichte erfinden, sich womöglich sogar irgendwie herausreden können, aber so hatten sie zu viele Zeugen gegen sich. Eine neunzehnjährige Studentin im ersten Semester im Bett mit ihrem Geschichtsprofessor. Es gab Vorschriften, die dergleichen untersagten, und nur ein Trottel wäre dumm genug, sich dabei erwischen zu lassen, besonders in einem Ort wie Oldburn, Ohio. Er wurde entlassen, Emily floh nach Chicago, und das war’s. Seine Karriere erholte sich nie von diesem Rückschlag, noch mehr aber schmerzte ihn der Verlust Emilys. Der verfolgte ihn sein Leben lang, und kein Monat verging (wie er sich mir gegenüber im Krankenhaus ausdrückte), in dem er die Grausamkeit seiner Zurückweisung durch sie nicht von neuem durchlebte, in dem er nicht an den entgeisterten Blick denken mußte, den sie ihm zuwarf, als er sie bat, ihn zu heiraten. «Du hast mich ruiniert», sagte sie, «und ich will verdammt sein, wenn ich dich je wiedersehe.» Dazu kam es auch tatsächlich nicht mehr. Als es ihm dreizehn Jahre später endlich gelungen war, ihr auf die Spur zu kommen, lag sie bereits im Grab.
    Meine Mutter hat, soviel ich weiß, mit keinem Menschen über diese Geschehnisse gesprochen. Ihre Eltern waren beide tot, und gegenüber Victor, der mit dem Cleveland Orchestra durch die Lande zog, fühlte sie sich gewiß nicht verpflichtet, den Skandal zu erwähnen. Schließlich und endlich war sie ja bloß eine von vielen Studienabbrechern, und das kann bei einer jungen Frau 1946 kaum ein Grund zu besonderer Beunruhigung gewesen sein. Rätselhaft war, daß sie sich auch dann noch weigerte, den Namen des Vaters preiszugeben, als sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. In den Jahren, in denen ich mit meinem Onkel zusammenlebte, fragte ich ihn mehrmals danach, aber er tappte genauso im Dunkeln wie ich. «Das war Emilys Geheimnis», sagte er. «Ich habe sie deswegen öfter bedrängt, als mir heute lieb ist, aber sie hat nie auch nur eine Andeutung gemacht.» Damals erforderte es Mut und Entschlossenheit, ein uneheliches Kind auf die Welt zu bringen, doch hat meine Mutter offenbar keine Sekunde lang gezögert. Neben allem anderen habe ich ihr auch dafür zu danken. Eine weniger eigensinnige Frau hätte mich zur Adoption freigegeben - oder noch schlimmer, hätte mich abtreiben lassen. Kein sehr angenehmer Gedanke, aber wäre meine Mutter ein anderer Mensch gewesen, wäre ich vielleicht nicht auf die Welt gekommen. Hätte sie das Naheliegende getan, wäre ich gestorben, noch ehe ich überhaupt geboren war, ein drei Monate alter Fötus am Grund einer Mülltonne in irgendeiner finsteren Gasse.
    Daß meine Mutter ihn abgewiesen hatte, stimmte Barber zwar traurig, überraschte ihn im Grunde aber nicht, und auf die Dauer fiel es ihm schwer, ihr das übelzunehmen. Es war ja ohnehin ein Wunder, daß sie sich überhaupt von ihm angezogen gefühlt hatte. Im Frühjahr 1946 war er immerhin schon neunundzwanzig, und Emily war tatsächlich die erste Frau, die mit ihm ins Bett gegangen war, ohne sich dafür bezahlen zu lassen. Und selbst letzteres war nur äußerst sporadisch vorgekommen. Das Risiko war einfach zu groß, und nachdem er einmal erfahren hatte, daß Demütigung jedes Vergnügen zunichte machte, wagte er selten noch einen Versuch. Barber machte sich keine Illusionen über sich selbst. Er wußte, was die Leute sahen, wenn sie ihn erblickten; und er wußte, daß ihre Gefühle nicht unberechtigt waren. Emily war seine einzige Chance gewesen, und er hatte sie verspielt. So schwer das auch zu akzeptieren war, sah er doch letztlich ein, daß er nichts anderes verdient hatte.
    Sein Körper war ein Verlies, und er war dazu verdammt, den Rest seiner Tage darin abzusitzen, ein vergessener Häftling ohne das Recht auf Berufung, ohne Hoffnung auf Straferlaß, ohne Aussicht auf eine rasche und gnädige Hinrichtung. Mit fünfzehn schon hatte er seine volle Körpergröße erreicht, etwa eins achtundachtzig bis eins neunzig, und von da an hatte er ständig zugenommen. In seinen späteren Jugendjahren mühte er sich, sein Gewicht unter 250 Pfund zu halten, aber da waren seine nächtlichen Freßorgien wenig hilfreich, und

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