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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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begannen Mitte September, und gegen Ende der ersten Woche hörte ich schließlich von Solomon Barber. Seit Effings Tod waren fast vier Monate vergangen, und ich rechnete schon gar nicht mehr damit, daß er mir noch schreiben würde. Jedenfalls war es mir nicht mehr wichtig, und in Anbetracht der vielen verschiedenen Reaktionen, die bei einem Mann in seiner Lage möglich schienen - Schock, Verärgerung, Glück, Furcht -, konnte ich es ihm kaum verübeln, wenn er sich nicht meldete. Fünfzig Jahre seines Lebens in dem Bewußtsein zu verbringen, daß sein Vater tot sei, und dann zu hören, daß er die ganze Zeit über gelebt hatte, nur um im selben Augenblick zu erfahren, daß er jetzt wirklich tot war - ich konnte mir keine Mutmaßungen darüber erlauben, wie jemand auf einen solchen Erdrutsch reagieren würde. Aber dann lag eines Tages Barbers Brief im Kasten: ein liebenswürdiger und bedauernder Brief, voll überschwenglichem Dank für alles, was ich getan hatte, um seinem Vater in den letzten Monaten seines Lebens zu helfen. Er würde gerne mit mir sprechen, schrieb er, und wenn es nicht zuviel verlangt sei, werde er mich im Herbst einmal für ein Wochenende in New York besuchen kommen. Sein Ton war so höflich und taktvoll, daß es mir nicht in den Sinn kam, nein zu sagen. Gleich nachdem ich seinen Brief gelesen hatte, antwortete ich ihm, daß ich jederzeit gern zu einem Treffen mit ihm bereit sei.
    Wenig später kam er nach New York geflogen - an einem Freitagnachmittag Anfang Oktober, gerade als das Wetter umzuschlagen begann. Nach seinem Eintreffen im Warwick Hotel rief er mich an, und wir vereinbarten, uns sobald es mir möglich war im Foyer zu treffen. Als ich ihn fragte, wie ich ihn denn erkennen könne, lachte er leise in die Sprechmuschel. «Ich werde der größte von allen Anwesenden sein», sagte er, «Sie können mich nicht verfehlen. Aber falls doch noch jemand von meiner Größe dasein sollte, bin ich der Kahlköpfige, der, der kein einziges Haar mehr auf dem Kopf hat.»
    Das Wort «groß» wurde ihm kaum gerecht, wie ich bald herausfand. Effings Sohn war riesig, ein Koloß, eine chaotische Anhäufung von Fleisch. Jemanden von solcher Statur hatte ich noch nie kennengelernt, und als ich ihn im Foyer des Hotels auf einer Couch erblickte, zögerte ich zunächst, an ihn heranzutreten. Er war einer jener monströs dicken Männer, wie man sie manchmal auf der Straße sieht: sosehr man sich auch bemüht, den Blick von ihnen abzuwenden, man muß sie einfach angaffen. Er war titanisch in seiner Feistheit, ein Mensch von derart praller, vorquellender Fettleibigkeit, daß man sich bei seinem Anblick unweigerlich schrumpfen fühlte. Es war, als ob seine Dreidimensionalität stärker ausgeprägt wäre als bei anderen Menschen. Er nahm nicht nur mehr Raum ein als andere, sondern schien den Raum zu überfluten, schien über seine Grenzen hinauszuquellen und Gebiete zu bewohnen, die gar nicht mehr zu ihm gehörten. Sein kahler Kolossalschädel ragte aus den Wülsten des Halsmassivs, und wie er so da saß, eignete ihm etwas Sagenhaftes, etwas, das mir gleichzeitig obszön und tragisch vorkam. Es konnte nicht sein, daß der hagere und winzige Effing einen solchen Sohn gezeugt hatte: Er war ein genetischer Unglücksfall, ein abtrünniges, verwildertes Samenkorn, das unmäßig ins Kraut geschossen war. Einige Augenblicke lang konnte ich mir fast einreden, es handele sich um eine Halluzination, doch dann trafen sich unsere Blicke, und sein Gesicht strahlte lächelnd auf. Er trug einen grünen Tweedanzug und hellbraune Hush Puppies. Die halb aufgerauchte Zigarre in seiner linken Hand wirkte nicht größer als eine Nadel.
    «Solomon Barber?» fragte ich.
    «Ganz recht», sagte er. «Und Sie müssen Mr. Fogg sein. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Sir.»
    Seine kräftige, klangvolle Stimme rasselte ein wenig von dem Zigarrenrauch in seinen Lungen. Ich schüttelte die riesige Hand, die er mir hinhielt, und setzte mich neben ihn auf die Couch. Eine Zeitlang sprach keiner von uns. Das Lächeln verschwand langsam aus Barbers Gesicht, und seine Züge nahmen einen unruhigen, geistesabwesenden Ausdruck an. Er musterte mich durchdringend, schien aber zugleich in Gedanken verloren, als sei ihm gerade irgendeine wichtige Idee gekommen. Dann machte er die Augen unerklärlicherweise zu und holte tief Luft.
    «Ich habe mal jemand gekannt, der Fogg hieß», sagte er schließlich. «Vor langer Zeit.»
    «Es ist nicht gerade ein

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