Mond über Manhattan
für allemal aufzugeben. Wenn er schon nicht den Mut zum Sterben habe, sagte er sich, dann wolle er wenigstens als freier Mann leben. Soviel war sicher: Er würde nicht mehr vor sich selbst zurückschaudern; er würde nicht mehr von anderen bestimmen lassen, wer er war. In den nächsten vier Monaten aß er, um alles und jedes zu vergessen, fraß sich voll mit Windbeuteln und Krapfen, mit Butterkartoffeln und saucengetränktem Braten, mit Pfannkuchen, Brathähnchen und kräftigen Fischsuppen. Als sein Anfall vorbei war, hatte er siebenunddreißig neue Pfunde zugelegt - aber solche Zahlen waren ihm nicht mehr wichtig. Er nahm keine Notiz mehr von ihnen, daher existierten sie für ihn nicht mehr.
Je mehr sein Körper an Umfang zunahm, desto tiefer vergrub er sich darin. Barber hatte vor, sich von der Welt abzuschließen, sich in der Masse seines Fleisches unsichtbar zu machen. Während dieser Monate in Cleveland lernte er zu ignorieren, was Fremde von ihm dachten, immunisierte er sich gegen die Qual, gesehen zu werden. Jeden Morgen stellte er sich auf die Probe, indem er zur Hauptverkehrszeit über die Euclid Avenue spazierte, und samstags und sonntags ließ er es sich angelegen sein, die Nachmittage im Weye Park zu vertrödeln; er setzte sich so vielen Leuten wie möglich aus, tat, als überhöre er, was die Gaffer sagten, ließ ihre Blicke von sich abprallen. Er war jetzt allein, vollkommen getrennt von allen anderen: eine knollige, eiförmige Monade, die durch das Schlachtfeld ihres Bewußtseins trottete. Aber die Mühe hatte sich gelohnt, er hatte keine Angst mehr vor seiner Einsamkeit. Er hatte sich in das Chaos seines Innern gestürzt und war so endlich Solomon Barber geworden, eine Persönlichkeit, ein Jemand, einer, der in seiner selbstgeschaffenen Welt lebte. Der krönende Touch kam einige Jahre später, als Barber die Haare auszufallen begannen. Anfangs kam ihm das wie ein schlechter Witz vor - ein Glatzkopf namens Barber -, doch da Perücken und Toupets nicht in Frage kamen, blieb ihm nichts anderes übrig, als damit zu leben. Allmählich welkte der schöne Garten auf seinem Kopf dahin. Wo einst ein Dickicht von rötlichbraunen Locken gewachsen war, war jetzt nur noch ein kahler Skalp, eine unfruchtbare Fläche nackter Haut. Diese Veränderung seines Aussehens gefiel ihm ganz und gar nicht, aber noch beunruhigender erschien ihm die Tatsache, daß dieser Prozeß so gänzlich seiner Kontrolle entzogen war, ihn zur Passivität sich selbst gegenüber zwang; und genau das konnte er einfach nicht hinnehmen. Eines Tages, da hatte er bereits nur noch einen Haarkranz, griff er daher besonnen zu einem Rasiermesser und schabte sich auch noch den Rest ab. Das Ergebnis dieses Experiments war wesentlich eindrucksvoller, als er gedacht hatte. Barber fand, er besitze einen mächtigen Stein von Kopf, ein mythologisches Haupt, und während er sich so im Spiegel betrachtete, schien es ihm nur richtig, daß der riesige Globus seines Körpers nun auch mit einem Mond ausgestattet war. Von jenem Tag an behandelte er diesen Trabanten mit gewissenhafter Sorgfalt, cremte und ölte ihn jeden Morgen, damit er auch immer gehörig glatt war und glänzen konnte, verwöhnte ihn mit Elektromassagen und hielt ihn stets vor dem Walten der Elemente geschützt. Er trug jetzt Hüte, alle möglichen Hüte, die nach und nach zum Merkmal seiner Exzentrizität wurden, zu seinem unverwechselbaren Kennzeichen. Er war nicht mehr bloß der feiste Barber, er war der Mann, der Hüte trug. Es erforderte einen gewissen Mut, dies zu tun, aber inzwischen hatte er gelernt, an der Pflege seiner Absonderlichkeit Gefallen zu finden, und so erwarb er gleich ein ganzes Arsenal verschiedenster Hüte, was seinem Talent, andere Leute zu verblüffen, nur förderlich war. Er trug Melonen und Feze, Baseballkappen und Filzhüte, Tropenhelme und Cowboyhüte, alles, worauf er Lust hatte, ohne Rücksicht auf Stil oder Konvention. 1957 war seine Sammlung so groß geworden, daß er einmal dreiundzwanzig Tage hintereinander keinen Hut zweimal trug.
Nach der Kreuzigung von Ohio (wie er das später nannte) fand Barber bei etlichen kleinen, unbedeutenden Colleges im Westen und Mittelwesten Arbeit. Was er anfangs als zeitweiliges Exil betrachtete, erstreckte sich schließlich über mehr als zwanzig Jahre, und als es dann vorbei war, war die Landkarte seiner Wunden von Punkten in allen Winkeln des Herzlandes umschrieben: Indiana und Texas, Nebraska und Oklahoma, South Dakota und
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