Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
auch diverse Diäten schienen nicht anzuschlagen. Er vermied jeden Blick in den Spiegel und verbrachte die meiste Zeit allein. Die Welt war ein von Gaffern und Zeigefingern gesäumter Spießrutenlauf, und er war eine wandelnde Monstrositätenshow, ein fettes Riesenbaby, das den Leuten den Atem verschlug und sie zum Lachen brachte. Schon früh wurden Bücher seine Zuflucht, dort konnte er sich verstecken - nicht nur vor den anderen, sondern auch vor seinen eigenen Gedanken. Denn Barber war nie im Zweifel darüber, wem für sein Aussehen die Schuld zu geben war. Verkroch er sich in die gedruckten Worte, gelang es ihm, seinen Körper zu vergessen, und dies half ihm mehr als alles andere, seine Selbstanklagen zum Schweigen zu bringen. Bücher ermöglichten es ihm, sich treiben zu lassen, sein Ich frei in seinem Kopf schweben zu lassen, und solange er sich voll und ganz nur mit ihnen beschäftigte, konnte er sich in der Täuschung wiegen, daß er sich freigemacht habe, daß er die Taue, die ihn in seinem grotesken Hafen festhielten, gekappt habe.
    Die High-School schloß er als Bester seiner Klasse ab, er heimste Noten und Testergebnisse ein, die in dem kleinen Ort Shoreham, Long Island, jedermann in Erstaunen versetzten. Im Juni jenes Jahres hielt er eine tief empfundene, aber ausufernde Abschiedsrede, in der er sich für die pazifistische Bewegung, die spanische Republik und eine zweite Amtszeit Roosevelts aussprach. Es war 1936, und das Publikum in der heißen Turnhalle spendete ihm am Ende lauten Beifall, auch wenn es seine politischen Ansichten nicht teilte. Danach machte er sich, wie neunundzwanzig Jahre später sein ahnungsloser Sohn, auf den Weg nach New York, wo er vier Jahre lang das Columbia College besuchte. Am Ende des Studiums hatte er seine Gewichtsobergrenze auf 290 Pfund festgelegt. Es folgte ein Geschichtsstudium, in dessen Verlauf er sich bei der Army meldete, jedoch abgelehnt wurde. «Fettsäcke können wir nicht brauchen», sagte der Sergeant mit verächtlichem Grinsen. So trat Barber in die Reihen der Heimatfront, blieb zu Hause mit den Gelähmten und geistig Untauglichen, den zu jungen und den zu alten. Er verbrachte diese Jahre am historischen Fachbereich der Columbia inmitten von Frauen; ein anomaler Koloß männlichen Fleisches, der in den Bibliotheksmagazinen vor sich hin brütete. Allerdings zog niemand seine Verdienste in Zweifel. Seine Dissertation über Bishop Berkeley und die Indianer erhielt 1944 den American Studies Award zugesprochen, und danach wurden ihm von einigen Universitäten im Osten Stellen angeboten. Aus Gründen, die mir nie so ganz klar wurden, entschied er sich für Ohio.
    Das erste Jahr lief nicht schlecht. Barber machte sich als Lehrer beliebt, trat als Bariton dem Fakultätschor bei und schrieb die ersten drei Kapitel eines Buches über Gefangenschaft bei den Indianern. Der Krieg in Europa ging in diesem Frühjahr zu Ende, und als im August die zwei Bomben auf Japan abgeworfen wurden, versuchte er sich mit dem Gedanken zu trösten, daß so etwas nicht noch einmal geschehen könnte. Wider Erwarten ließ das nächste Jahr sich glänzend an. Zwischen September und Januar brachte er sein Gewicht auf dreihundert Pfund herunter, und zum erstenmal in seinem Leben begann er mit einigem Optimismus in die Zukunft zu blicken. Im Frühjahrssemester kam Emily Fogg in seine historische Einführungsvorlesung, ein reizendes, quicklebendiges Mädchen, das sich unerwarteterweise in ihn verknallte. Das war zu schön, um wahr zu sein, und obwohl er sich nach Kräften bemühte, behutsam vorzugehen, ging ihm nach und nach auf, daß nun mit einemmal alles möglich war, selbst das, was er sich bis dahin nicht einmal vorzustellen gewagt hatte. Dann kam die Sache mit dem Internat, mit jener Putzfrau, die ins Zimmer platzte, die Katastrophe. Das alles ging so schnell, daß es ihn lähmte, daß er vor Benommenheit nicht reagieren konnte. Als er noch am selben Tag ins Büro des Rektors bestellt wurde, kam er nicht einmal auf die Idee, gegen seine Entlassung zu protestieren. Er ging auf sein Zimmer zurück, packte seine Koffer und verschwand, ohne sich von irgendwem zu verabschieden.
    Der Nachtzug brachte ihn nach Cleveland, wo er sich im YMCA ein Zimmer nahm. Zunächst hatte er vor, sich aus dem Fenster zu stürzen, doch nachdem er drei Tage lang auf den richtigen Augenblick gewartet hatte, wurde ihm klar, daß ihm dazu der Mut fehlte. Worauf er den Entschluß faßte, sich zu fügen, den Kampf ein

Weitere Kostenlose Bücher