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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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nächsten Ort weiter, nahm seinen Abschied und verschwand in den Sonnenuntergang.
    Nach dem, was Barber mir erzählte, kreuzten seine und Onkel Victors Pfade sich nur ein einziges Mal, aber wenn ich die Einzelheiten ihrer beider Leben recht interpretiere, könnten sie sich insgesamt dreimal begegnet sein. Demnach hätte die erste Begegnung 1939 auf der New Yorker Weltausstellung stattgefunden. Fest steht, daß sie beide dort waren, und mag es auch noch so unwahrscheinlich sein, so ist es doch nicht ausgeschlossen, daß sie am selben Tag dort gewesen sein könnten. Ich male mir gerne aus, wie sie zusammen vor irgendeinem Ausstellungsstück stehen - dem Auto der Zukunft zum Beispiel, oder der Küche von morgen - und dann zufällig aneinanderstoßen und sich, um Verzeihung bittend, simultan an die Hüte tippen, zwei junge Männer in den besten Jahren, der eine dick, der andere dünn, ein geisterhaftes Komödiantengespann, das im Vorführraum meines Schädels seine kleine Nummer für mich aufführt. Effing, soeben aus Europa zurückgekehrt, war natürlich auch auf der Ausstellung, und manchmal lasse ich auch ihn an dieser imaginären Szene teilnehmen. Pavel Shum schiebt ihn in einem altmodischen Korbwagen über das Gelände. Vielleicht stehen Barber und Onkel Victor nebeneinander, wenn Effing an ihnen vorbeikommt. Vielleicht schreit Effing genau in diesem Augenblick seinem russischen Begleiter irgendeine schlechtgelaunte Beleidigung zu, und Barber und Onkel Victor, verblüfft von der in aller Öffentlichkeit zur Schau gestellten Grobheit des Mannes, lächeln einander an und schütteln traurig den Kopf. Selbstverständlich ohne zu ahnen, daß dieser Mann der Vater des einen von ihnen und der zukünftige Großvater des Neffen des anderen ist. Die Möglichkeiten für solche Szenen sind grenzenlos, doch versuche ich im allgemeinen, sie so schlicht wie möglich auszugestalten - als kurze, wortlose Interaktionen: lächeln, an den Hut tippen, um Verzeihung bitten.
    Auf diese Weise wirken sie auf mich suggestiver, als ob ich mir, wenn ich nicht zuviel wage, wenn ich mich auf kleine, nebensächliche Einzelheiten konzentriere, um so besser weismachen könnte, daß derlei sich tatsächlich zugetragen hat.
    Die zweite Begegnung hätte 1946 in Cleveland stattfinden können. Diese ist vermutlich noch spekulativer als die erste, aber ich erinnere mich genau, daß ich eines Tages in Chicago bei einem Spaziergang mit meinem Onkel im Lincoln Park einen ungeheuer dicken Mann gesehen habe, der im Gras saß und an einem Sandwich kaute. Dieser Mann nun erinnerte Victor an einen anderen dicken Mann, den er einmal in Cleveland gesehen hatte («damals, als ich noch bei dem Orchester spielte»), und obwohl ich keinen eindeutigen Beweis dafür habe, stelle ich mir gerne vor, daß der Mann, der einen solchen Eindruck bei ihm hinterließ, Barber gewesen ist. Die Daten passen jedenfalls genau zueinander, denn Victor spielte von 1945 bis 1948 in Cleveland, und Barber mietete sich im Frühjahr 1946 im dortigen YMCA ein. Wie Victor mir erzählte, habe er eines Abends in Lansky’s Delikatessen, einem großen, geräuschvollen Restaurant drei Blocks westlich von Severence Hall, einen Käsekuchen gegessen. Nach Beendigung eines Beethoven-Konzerts sei er mit drei anderen Holzbläsern des Orchesters dort zu einem nächtlichen Imbiß eingekehrt. Von seinem Sitzplatz im hinteren Teil des Restaurants konnte er ungehindert einen feisten Mann beobachten, der allein an einem Tisch an der seitlichen Trennwand saß. Unfähig, seinen Blick von dieser enormen, einsamen Gestalt abzuwenden, sah mein Onkel voller Entsetzen zu, wie der Mann zwei Schüsseln Matzenknödelsuppe und eine Platte Kohlrouladen vertilgte und dazu als Beilage Blinis, drei Teller Krautsalat, einen Korb Brot und sechs oder sieben Gewürzgurken in sich hineinschlang. Victor war von dieser Völlerei so konsterniert, daß er sie sein Leben lang nicht vergessen konnte - es war ein Bild reiner und unverfälschter menschlicher Traurigkeit. «Wer so ißt, versucht sich umzubringen», sagte er zu mir. «Es ist derselbe Anblick wie der eines Mannes, der sich zu Tode hungert.»
    Das letzte Mal trafen sie 1959 zusammen, in der Zeit, als mein Onkel und ich in Saint Paul, Minnesota, lebten. Barber arbeitete damals am Macalester College, und als er eines Abends in seiner Wohnung saß und die Gebrauchtwagenanzeigen auf den hinteren Seiten der Pioneer Press studierte, fiel sein Blick zufällig auf eine Anzeige, in

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