Mond über Manhattan
aber das verringerte seine Befürchtungen, worum es sich bei dieser Wahrheit handeln könnte, nicht im geringsten. Irgendwo da draußen lief ein Vater herum, und wozu ein Risiko eingehen mit einem Mann, der so neugierig war, etwas über Emily zu erfahren? Wer konnte, wenn es zum Schlimmsten käme, absehen, ob er nicht um die Vormundschaft über den Jungen kämpfen würde? In der Antwort auf den ersten Brief ließ es sich ja noch leicht umgehen, mich zu erwähnen, doch dann kam der zweite Brief mit all diesen neuen Fragen, und Victor erkannte, daß er in der Falle saß. Den Brief zu ignorieren würde das Problem nur hinausschieben, denn wenn der Fremde wirklich so neugierig war, wie es den Anschein hatte, würde er uns schließlich besuchen kommen. Und was dann? Victor sah keinen Ausweg, als sich abzusetzen, mich mitten in der Nacht in den Wagen zu packen und in einer Staubwolke zu verschwinden.
Diese Geschichte war eine der letzten, die Barber mir erzählte, und es zerriß mir das Herz, als ich sie hörte. Ich begriff, was Victor getan hatte, und als mir seine Hingabe so deutlich vor Augen geführt wurde, überkam mich eine Woge von schmerzlichen Gefühlen - ich beklagte und betrauerte noch einmal seinen Tod. Zugleich aber empfand ich Enttäuschung, Verbitterung über die Jahre, die verloren waren. Denn hätte Victor, anstatt wegzulaufen, auf Barbers zweiten Brief geantwortet, hätte ich vielleicht schon 1959 erfahren, wer mein Vater war. Niemand trug Schuld an dem, was geschehen war, aber das machte es auch nicht leichter, sich damit abzufinden. Verpaßte Anschlüsse, schlechtes Timing, Tappen im dunkeln - das waren die Ursachen. Wir waren stets zur falschen Zeit am rechten Ort, zur rechten Zeit am falschen Ort, liefen ständig aneinander vorbei, waren immer nur Zentimeter davon entfernt, der ganzen Sache auf den Grund zu kommen. Darauf läuft die Geschichte wohl hinaus. Eine Reihe verpaßter Chancen. Alle Teile waren von Anfang an da, doch niemand wußte, wie sie zusammenzusetzen waren.
Bei unserer ersten Begegnung kam von alldem natürlich nichts zur Sprache. Da Barber beschlossen hatte, von seinen Vermutungen zu schweigen, blieb uns als Thema nur noch sein Vater, und das behandelten wir in den Tagen, die er in der Stadt war, ziemlich erschöpfend. Am ersten Abend speiste er mit mir bei Gallagher’s in der 52nd Street; am zweiten Abend gingen wir zusammen mit Kitty in einem Restaurant in Chinatown essen; und am dritten Tag, einem Sonntag, frühstückte ich mit ihm in seinem Hotel, bevor er den Rückflug nach Minnesota antrat. Barbers Geist und Charme ließen einen sein unglückliches Äußeres bald vergessen, und je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, desto behaglicher fühlte ich mich. Wir sprachen fast von Anfang an ganz offen, erzählten einander unsere Geschichten und tauschten dabei Witze und Ideen aus, und da er nicht zu denen gehörte, die sich vor der Wahrheit fürchten, konnte ich ihm von seinem Vater berichten, ohne mich selbst zu zensieren, und er bekam alles zu hören, was ich in den Monaten mit Effing erlebt hatte, das Gute genauso wie das Schlechte.
Barber selbst hatte nie viel gewußt. Sein Vater, so war ihm gesagt worden, war ein paar Monate vor seiner Geburt irgendwo im Westen gestorben, und das kam ihm durchaus glaubwürdig vor, waren doch die Wände des Hauses mit seinen Bildern vollgehängt; und jeder hatte ihm erzählt, daß sein Vater Maler sei, ein Landschaftsspezialist, der für seine Kunst viele Reisen unternommen habe. Sein letztes Ziel sei die Wüste von Utah gewesen, hieß es, eine gottverlassene Gegend im wahrsten Sinne des Wortes, und dort sei er ums Leben gekommen. Aber von den Umständen seines Todes erfuhr er nie etwas. Als er sieben war, erzählte ihm eine Tante, sein Vater sei von einem Felsen gestürzt. Drei Jahre später erklärte ihm ein Onkel, sein Vater sei von Indianern entführt worden, und keine sechs Monate darauf verkündete Molly Sharp, das Ganze sei ein Werk des Teufels. Sie war die Köchin, die ihm nach der Schule immer diese köstlichen Puddings auftischte - eine kräftige, rotgesichtige Irin mit großen Zahnlücken -, und er hatte sie noch nie bei einer Lüge ertappt. Wie auch immer, der Tod seines Vaters wurde jedenfalls stets als Grund dafür angegeben, warum seine Mutter sich auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte. So die familieninterne Umschreibung für den Zustand seiner Mutter, obwohl sie ihr Zimmer in Wirklichkeit doch zuweilen verließ, besonders an warmen
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