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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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der ein Victor Fogg, «ehemaliges Mitglied des Cleveland Orchestra», Klarinettenunterricht anbot. Der Name fuhr ihm wie ein Speer durchs Gedächtnis, und dann sah er Emily wieder vor sich, so leuchtend und lebendig, wie er sie seit Jahren nicht vor sich gesehen hatte. Mit einemmal war sie wieder in ihm, vom Erscheinen ihres Namens zum Leben erweckt, und für den Rest dieser Woche konnte er sie nicht mehr aus seinen Gedanken vertreiben; er fragte sich, was aus ihr geworden sein mochte, er dachte sich aus, wie ihr Leben verlaufen sein könnte, er sah sie mit einer Klarheit vor sich, die ihn schier erschreckte. Vermutlich war der Musiklehrer nicht mit ihr verwandt, aber was konnte es schaden, das festzustellen? Als erstes wollte er Victor gleich anrufen, aber nachdem er mehrmals durchgekaut hatte, was er zu ihm sagen sollte, überlegte er es sich anders. Er wollte sich nicht zum Narren machen, wenn er seine Geschichte zu erzählen versuchte und einem gelangweilten Fremden am anderen Ende der Leitung zusammenhangloses Zeug vorstammelte. Statt dessen entschloß er sich zu einem Brief, entwarf sieben oder acht Fassungen, bis er endlich zufrieden damit war, und schickte ihn dann in einem Anfall von Verzweiflung ab, sein Tun schon im Augenblick bereuend, als der Umschlag im Briefkasten verschwand. Die Antwort, wortkarg und schräg über einen gelben Briefbogen gekritzelt, kam zehn Tage später. «Sir -», lautete die Nachricht, «Emily Fogg war tatsächlich meine Schwester, doch habe ich die traurige Pflicht, Ihnen mitteilen zu müssen, daß sie vor acht Monaten bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Tut mir unendlich leid. Hochachtungsvoll, Victor Fogg.»
    Genau besehen sagte der Brief ihm nichts Neues. Victor hatte nur eine einzige Tatsache festgestellt, und diese Tatsache war Barber schon vor langer Zeit selbst klargeworden: daß er Emily nie wiedersehen würde. Ihr Tod änderte daran nichts, sondern bestätigte nur, was bereits Gewißheit war, ließ ihn den Verlust, mit dem er seit Jahren gelebt hatte, nur noch einmal durchleben. Das machte die Lektüre des Briefes nicht weniger schmerzlich, doch nachdem seine Tränen versiegt waren, erwachte in ihm der Hunger nach weiterer Information. Was war aus ihr geworden? Wohin war sie gegangen, und was hatte sie getan? Hatte sie geheiratet? Hatte sie Kinder zurückgelassen? Hatte jemand sie geliebt? Barber wollte Tatsachen. Er wollte die leeren Stellen ausfüllen und ihr ein Leben entwerfen, etwas Greifbares, das er mit sich herumtragen konnte: eine Reihe von Bildern, sozusagen ein Fotoalbum, das er im Geiste aufschlagen und nach Belieben betrachten konnte. Am nächsten Tag schrieb er Victor wieder. Nachdem er im ersten Absatz sein herzliches Beileid und Mitgefühl ausgedrückt hatte, deutete er äußerst behutsam an, wieviel ihm an den Antworten auf einige dieser Fragen gelegen sei. Geduldig wartete er auf eine Antwort, aber zwei Wochen lang kam nichts. Schließlich glaubte er, der Brief sei womöglich verlorengegangen, und rief bei Victor an. Nachdem er drei oder viermal gewählt hatte, schaltete sich die Vermittlung ein und erklärte, der Anschluß sei abgestellt worden. Das war rätselhaft, doch Barber ließ sich nicht davon entmutigen (der Mann konnte ja schließlich arm sein, zu knapp bei Kasse, um seine Telefonrechnung zu bezahlen), sondern stieg in seinen 51er Dodge und fuhr in die 1025 Linwood Avenue, wo Victor wohnte. Da er Foggs Namen nicht neben den Klingeln am Eingang finden konnte, läutete er beim Hausmeister. Kurz darauf kam ein kleiner Mann in einem grüngelben Sweater an die Tür geschlurft und sagte ihm, Mr. Fogg sei nicht mehr da. «Er und der kleine Junge», sagte der Mann, «vor zehn Tagen haben sie ihre Sachen abgeholt und sind ausgezogen.» Das war eine Enttäuschung für Barber, ein Schlag, den er nicht erwartet hatte. Aber keinen Herzschlag lang überlegte er, wer dieser kleine Junge sein mochte. Und es hätte auch nichts geändert, wenn er darüber nachgedacht hätte. Dann hätte er ihn für den Sohn des Klarinettisten gehalten und es dabei bewenden lassen.
    Jahre später, als Barber mir von Victors Brief erzählte, begriff ich also endlich, warum mein Onkel und ich 1959 so plötzlich aus Saint Paul weggezogen waren. Jetzt wurde mir die ganze Szene klar: die nervöse nächtliche Packerei, die Nonstopfahrt zurück nach Chicago, die zwei Wochen im Hotel, ohne daß ich zur Schule ging. Victor konnte die Wahrheit über Barber nicht gewußt haben,

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