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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Sterbenden in ihre Siedlung, ein steiniges, ringsum von Felsen umgebenes Tal, in dem es üppig nach Yucca und Wacholder duftet, und pflegen ihn wieder gesund. Die Gemeinschaft besteht aus dreißig bis vierzig Leuten, etwa zu gleichen Teilen Männer, Frauen und Kinder, die spärlich oder gar nicht bekleidet in der sengenden Hochsommerhitze herumlaufen. Kaum ein Wort mit ihm oder untereinander wechselnd, wachen sie bei ihm, während er allmählich wieder zu Kräften kommt, flößen ihm Wasser ein und geben ihm seltsam aussehende Speisen, die er noch nie zuvor gegessen hat. Langsam wird sein Geist wieder klar, und Kepler bemerkt, daß diese Leute keinerlei Ähnlichkeit mit den anderen Stämmen dieser Gegend haben - den Ute und Navajos, den Pajute und Schoschonen. Sie kommen ihm primitiver vor, isolierter, freundlicher in ihrem Gebaren. Bei näherer Betrachtung kommt er sogar zu dem Schluß, daß viele von ihnen überhaupt keine Ähnlichkeit mit Indianern haben. Manche haben blaue Augen, andere haben einen rötlichen Farbton im Haar, und einige Männer haben sogar Haare auf der Brust. Anstatt jedoch seinen Augen zu trauen, wähnt Kepler nun, er befinde sich noch immer auf der Schwelle des Todes, er habe sich seine Rettung in der Raserei des Komas und der Schmerzen nur eingebildet. Aber das dauert nicht lange. Die stetige Besserung seines Zustandes zwingt ihn nach und nach, sich einzugestehen, daß er lebt und daß all das um ihn her Wirklichkeit ist.
    «Sie selbst nannten sich Die Menschen», schreibt Barber, «Die Leute, Die, die von weither gekommen sind. Den Legenden zufolge, die sie ihm erzählten, hatten ihre Vorfahren auf dem Mond gelebt. Doch eine große Dürre entzog dem Land das Wasser, und alle Menschen starben, bis auf Pog und Ooma, die so zu Urvater und Urmutter wurden. Neunundzwanzig Tage und neunundzwanzig Nächte zogen Pog und Ooma durch die Wüste, und als sie den Berg der Wunder erreichten, stiegen sie auf den Gipfel und hängten sich an eine Wolke. Sieben Jahre lang trug die Geistwolke sie durch den Weltraum, und dann schwebten sie auf die Erde hinab, wo sie den Wald der Ersten Dinge entdeckten und die Welt von neuem gründeten. Pog und Ooma zeugten mehr als zweihundert Kinder, und viele Jahre lang lebten Die Menschen glücklich, bauten Häuser zwischen den Bäumen, pflanzten Mais, jagten den magischen Hirsch, sammelten Fische aus dem Wasser. Auch Die Anderen lebten im Wald der Ersten Dinge, und da sie bereit waren, ihre Geheimnisse zu offenbaren, erwarben Die Menschen das Große Wissen von den Pflanzen und Tieren, so daß sie sich auf der Erde besser heimisch fühlten. Die Menschen vergalten die Freundlichkeit der Anderen mit eigenen Geschenken, und Generationen lang lebten die beiden Reiche in Eintracht. Dann aber kamen eines Morgens mit riesigen Holzschiffen die Wilden Männer von der anderen Seite der Welt. Eine Zeitlang schienen Die Bärtigen freundlich gesinnt, dann aber drangen sie in den Wald der Ersten Dinge ein und fällten dort viele Bäume. Als Die Menschen und Die Anderen sie baten, damit aufzuhören, holten die Wilden Männer ihre Blitz-und-Donner-Stöcke hervor und töteten sie. Die Menschen sahen ein, daß sie der Macht solcher Waffen nicht gewachsen waren, Die Anderen aber entschlossen sich zu Kampf und Widerstand. Das war die Zeit des Schrecklichen Abschiednehmens. Einige der Menschen schlossen sich den Anderen an, einige der Anderen schlossen sich den Menschen an, und dann trennten sich die Wege der beiden Familien. Die Menschen verließen ihre Häuser und machten sich auf den Weg in Die Dunkelheit, wanderten durch den Wald der Ersten Dinge, bis sie außer Reichweite der Wilden Männer zu sein glaubten. Dies wiederholte sich im Lauf der Jahre viele Male, denn kaum hatten sie in irgendeinem neuen Gebiet des Waldes eine Siedlung errichtet und begannen sich dort heimisch zu fühlen, hatten die Wilden Männer sie auch schon eingeholt. Anfangs gaben sich Die Bärtigen stets freundlich, doch dann fingen sie unausweichlich damit an, die Bäume zu fällen und Die Menschen zu töten, wobei sie lauthals von ihrem Gott und ihrem Buch und ihrer unbezwingbaren Stärke kündeten. Die Menschen zogen daher immer weiter, immer weiter nach Westen, um den nachrückenden Wilden Männern zu entkommen. Schließlich erreichten sie den Rand des Waldes der Ersten Dinge und entdeckten die Flache Welt mit ihren endlosen Wintern und kurzen, höllischen Sommern. Von dort zogen sie in das Land am Himmel, und als

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