Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
weniger einsam, als man meinen könnte. Die meiste Zeit lebten die Eltern seiner Mutter mit im Haus, und trotz ihrer Neigung zu hirnverbrannten Marotten - Fletschern, Symmes’ Hohlwelten, die Bücher von Charles Fort - war seine Großmutter überaus gut zu ihm; ebenso sein Großvater, der ihm Geschichten vom Bürgerkrieg erzählte und ihm beibrachte, wo man in der freien Natur welche Pflanzen finden konnte. Später kamen noch Onkel Binkey und Tante Clara dazu, und einige Jahre lang lebten sie alle miteinander in einer Art gereizter Harmonie. Der Börsenkrach von 1929 ruinierte sie nicht, doch waren danach gewisse Einsparungen nicht zu umgehen. Der Pierce Arrow verschwand mitsamt dem Chauffeur, den Mietvertrag für die New Yorker Wohnung ließ man auslaufen, und Barber wurde nicht wie geplant aufs Internat geschickt. 1931 wurden mehrere Werke aus der Sammlung seines Vaters verkauft - die Zeichnungen von Delacroix, das Gemälde von Samuel French Morse und der kleine Turner, der unten im Salon gehangen hatte. Freilich blieb auch so noch viel übrig. Besonders gern hatte Barber die zwei Blakelocks im Speisezimmer (an der Ostwand eine Landschaft im Mondlicht, an der Südwand die Darstellung eines Indianerlagers), und allenthalben waren die Bilder, die sein Vater selbst gemalt hatte: die Seestücke von Long Island, die Bilder von der Küste von Maine, die Studien vom Hudson, ein ganzes Zimmer voller Landschaften, die bei einer Exkursion in die Catskills entstanden waren - zerfallende Farmhäuser, unirdische Berge, ungeheure Flächen von Licht. Barber verbrachte Hunderte von Stunden mit der Betrachtung dieser Bilder, und in seinem dritten Jahr an der High-School organisierte er im Rathaus eine Ausstellung, für die er auch einen Essay über das Werk seines Vaters verfaßte, der kostenlos an alle Besucher der Eröffnungsveranstaltung verteilt wurde.
    Im Jahr darauf verbrachte er seine Nächte mit der Arbeit an einem Roman über das Verschwinden seines Vaters. Barber, eben erst siebzehn und mitten in den Wirren der Pubertät, sah sich nun als Künstler, als künftiges Genie, das, um seine Seele zu retten, seinen Schmerz aufs Papier ergießen mußte. Nach seiner Rückkehr nach Minnesota schickte er mir eine Abschrift des Manuskripts - nicht, wie er mich in seinem Begleitschreiben rechtfertigend wissen ließ, um mit seinem jugendlichen Talent zu prahlen (das Buch war von einundzwanzig Verlagen abgelehnt worden), sondern um mir eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie sehr die Abwesenheit seines Vaters sich auf seine Einbildungskraft ausgewirkt habe. Das Buch trug den Titel Keplers Blut und war in dem sensationslüsternen Stil von Schundromanen aus den dreißiger Jahren geschrieben. Teils Western, teils Sciencefiction, schlingerte die Erzählung von einem unwahrscheinlichen Vorfall zum nächsten und walzte mit der unerbittlichen Wucht eines Traumes voran. Manches war einfach grauenhaft, dennoch fand ich mich gefesselt, und als ich bis zum Schluß vorgedrungen war, hatte ich das Gefühl, nun ein besseres Bild von Barber zu haben, in etwa zu begreifen, was ihn geformt hatte.
    Der Beginn der Handlung war um rund vierzig Jahre zurückverlegt, in die siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, doch ansonsten folgt die Erzählung ziemlich genau dem wenigen, was Barber über seinen Vater in Erfahrung hatte bringen können. Ein fünfunddreißig Jahre alter Künstler namens John Kepler nimmt Abschied von seiner Frau und seinem kleinen Sohn und verläßt sein Haus auf Long Island für einen sechsmonatigen Marsch durch Utah und Arizona, in der Erwartung, wie der siebzehnjährige Autor sich ausdrückt, «ein Land voller Wunder zu entdecken, eine Welt von wilder Schönheit und extremen Farben, ein Reich von so monumentalen Ausmaßen, daß noch der kleinste Stein das Mal des Unendlichen trüge». In den ersten Monaten läuft alles gut, aber dann erleidet er einen Unfall, ähnlich dem, der angeblich Julian Barber widerfahren war: Er stürzt einen Abhang hinunter, bricht sich etliche Knochen, verliert das Bewußtsein. Als er am nächsten Morgen wieder zu sich kommt, merkt er, daß er sich nicht bewegen kann, und da er nicht an seine Vorräte herankommen kann, findet er sich damit ab, in der Wildnis verhungern zu müssen. Am dritten Tag jedoch, als er gerade den Geist aufgeben will, wird Kepler von einer Gruppe Indianer gerettet - auch hier klingt eine der Geschichten durch, die Barber als Junge gehört hatte. Die Indianer tragen den

Weitere Kostenlose Bücher