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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Sommerabenden, wenn sie durch die Flure des Hauses irrte oder sogar an den Strand hinunterging, sich ans Wasser setzte und zuhörte, wie die kleinen Wellen vom Sund heranspülten.
    Er sah seine Mutter nicht sehr oft, und selbst an guten Tagen hatte sie Mühe, sich an seinen Namen zu erinnern. Sie nannte ihn Teddy oder Malcolm oder Rob - wobei sie ihm immer direkt in die Augen sah und mit äußerster Überzeugung sprach -, oder sie verlegte sich auf seltsame Beinamen, auf die er sich keinen Reim machen konnte: Bally-Ball, Pooh-Bah und Mr. Jinks. Da er die seltenen Stunden in Gesellschaft seiner Mutter nicht vergeuden wollte, versuchte er ihre falschen Anreden nie zu korrigieren, denn er wußte aus Erfahrung, daß die geringste Nörgelei sie aus ihrer Stimmung reißen konnte. Die anderen im Haus nannten ihn Solly. Gegen diesen Spitznamen hatte er nichts einzuwenden, da er seinen richtigen Namen halbwegs so intakt ließ, als wäre er ein Geheimnis, das nur ihm bekannt sei: Solomon wie Salomo, der weise König von Israel, ein Mann von so präzisem Urteil, daß er damit drohen konnte, ein Baby mitten durchzuschneiden. Später fiel der Diminutiv fort, und er wurde zu Sol. Aus den elisabethanischen Dichtern erfuhr er, daß dies ein altes Wort für «Sonne» war, und wenig später fand er heraus, daß es auch das französische Wort für «Boden» war. Es faszinierte ihn, daß er Sonne und Erde zugleich sein konnte, und mehrere Jahre lang betrachtete er dies als Zeichen dafür, daß er allein sämtliche Widersprüche des Universums zu umfassen in der Lage sei.
    Seine Mutter bewohnte mit mehreren Betreuern und Helfern den dritten Stock, und oft kam sie lange Zeit nicht ein einziges Mal nach unten. Das dort oben war ein Reich für sich, mit der neu eingerichteten Küche am einen Ende des Flurs und dem großen neuneckigen Zimmer am anderen. Dort pflegte sein Vater seine Bilder zu malen, erzählte man ihm, und die Fenster waren so angeordnet, daß man, aus welchem man auch immer blickte, nichts als Wasser sah. Wenn man lange genug vor diesen Fenstern stand und sein Gesicht an das Glas drückte, bekam man allmählich ein Gefühl, als ob man am Himmel schweben würde, erzählte er. Er durfte nicht sehr oft dort hinaufgehen, aber manchmal konnte er in seinem Zimmer im Stockwerk darunter seine Mutter dort auf und ab gehen hören (das Knarren der Dielen unter dem Läufer), und gelegentlich vermochte er auch Stimmen auszumachen: das Raunen von Gesprächen, Gelächter, Liedfetzen, Stöhnen und Schluchzen. Seine Besuche im dritten Stock wurden von den Pflegerinnen diktiert, und jede von ihnen erließ ihre eigenen Vorschriften. Miss Forrest räumte ihm jeden Donnerstag eine Stunde ein; Miss Caxton überprüfte seine Fingernägel, bevor sie ihn hineinließ; Miss Flower verfocht flotte Strandspaziergänge; Miss Buxley servierte heißen Kakao; und Miss Gunderson sprach mit so leiser Stimme, daß er sie nicht verstehen konnte. Einmal spielte Barber mit seiner Mutter einen ganzen Nachmittag lang Verkleiden, und ein anderes Mal ließen sie auf dem Teich ein Spielzeugboot fahren, bis es dunkel wurde. Solche Besuche waren ihm am deutlichsten im Gedächtnis geblieben, und Jahre später erkannte er, daß dies wohl die glücklichsten Stunden gewesen waren, die er mit ihr verbracht hatte. Solange er zurückdenken konnte, war sie ihm immer alt vorgekommen mit ihrem grauen Haar, dem ungeschminkten Gesicht, den wäßrigen blauen Augen, den herabgezogenen Mundwinkeln, den Leberflecken auf ihren Handrücken. Ihre Bewegungen hatten stets etwas Zittriges, und dies ließ sie wohl noch zerbrechlicher erscheinen, als sie war - mit den Nerven am Ende, eine Frau, die permanent am Rande des Zusammenbruchs stand. Dennoch hielt er sie nicht für verrückt (unglücklich war das Wort, das ihm gewöhnlich für ihren Zustand einfiel), und selbst wenn sie Dinge tat, die alle anderen in Schrecken versetzten, hatte er oft das Gefühl, daß sie sich nur verstellte. Im Lauf der Jahre kam es zu etlichen Krisen (ein Schreikrampf, als eine der Pflegerinnen gefeuert wurde; ein Selbstmordversuch; ein Zeitraum von einigen Monaten, in denen sie sich weigerte, irgendwelche Kleider anzuziehen), und einmal wurde sie, wie es hieß, zu einem langen Urlaub in die Schweiz geschickt. Viel später kam er dahinter, daß die Schweiz lediglich eine höfliche Umschreibung für eine Irrenanstalt in Hartford, Connecticut, gewesen war.
    Eine traurige Kindheit, jedoch nicht freudlos, und weit

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