Mond über Manhattan
Menschen, der in einem Haufen Unrat wühlt. Das waren die Spielregeln. Tiefstpreise konnte Chandler nur bieten, wenn er die Ware schlechtmachte. Nach dreißig Jahren Übung beherrschte er die Sache aus dem Effeff, hatte ein Repertoire von Gemurmel und beiläufigen Bemerkungen, schmerzlichen Grimassen, Zungenschnalzern und traurigem Kopfschütteln parat. Dieses Theater sollte mir die Belanglosigkeit meines Urteils vor Augen führen, sollte mich beschämt die Dreistigkeit erkennen lassen, mit der ich ihm diese Bücher überhaupt anzubieten wagte. Wollen Sie allen Ernstes Geld für diese Sachen haben? Erwarten Sie etwa auch Geld vom Müllmann, wenn er Ihren Abfall wegbringt?
Ich wußte, daß ich betrogen wurde, protestierte aber nur selten. Was hätte ich denn machen sollen? Chandler war der Stärkere, und daran ließ sich nichts ändern - denn ich wollte immer unbedingt verkaufen, und ihm lag nie etwas am Kaufen. Es hatte auch gar keinen Sinn, ihm meinerseits Gleichgültigkeit vorzuspielen. Dann wäre der Handel einfach nicht zustande gekommen, und das wäre am Ende noch schlimmer gewesen, als betrogen zu werden. Ich fand heraus, daß ich gewöhnlich besser fuhr, wenn ich ihm kleinere Mengen Bücher brachte, also höchstens zwölf bis fünfzehn auf einmal. Dann schien der Durchschnittspreis pro Buch ein wenig zu steigen. Aber je geringer der Erlös, desto öfter mußte ich wiederkommen, und mir war klar, daß ich ihn so selten wie möglich aufsuchen durfte - denn je mehr ich mit Chandler zu tun hatte, desto schwächer wurde meine Position. Ich konnte also tun, was ich wollte, Chandler mußte immer gewinnen. In all diesen Monaten machte der Alte sich nicht die Mühe, mit mir zu reden. Er grüßte nicht, er lächelte nicht, er gab mir nicht einmal die Hand. Er tat so interesselos, daß ich mich manchmal fragte, ob er sich von einem Besuch zum anderen überhaupt an mich erinnerte. Was Chandler anging, hätte ich jedesmal ein neuer Kunde sein können - einer von einer Reihe diverser Fremder, einer beliebigen Masse.
Während ich nach und nach die Bücher verkaufte, machte meine Wohnung viele Veränderungen durch. Das war unvermeidlich, denn mit jedem weiteren Karton, den ich öffnete, wurde zugleich ein weiteres Möbelstück zerstört. Mein Bett wurde abgebaut, meine Stühle schrumpften und verschwanden, mein Schreibtisch zerstob in den leeren Raum. Mein Leben war zu einem anwachsenden Nichts geworden; ich sah es buchstäblich vor mir: eine fühlbare, sich aufblähende Leere. Jedesmal, wenn ich mich in die Vergangenheit meines Onkels wagte, hatte das ein greifbares Ergebnis, eine Auswirkung in der realen Welt. Folglich standen mir die Konsequenzen immer vor Augen, und es gab keine Möglichkeit, ihnen zu entrinnen. So viele Kisten waren noch übrig, so viele Kisten waren schon fort. Ich brauchte nur mein Zimmer anzusehen, um zu wissen, was geschah. Das Zimmer war ein Meßgerät für meinen Zustand: wieviel von mir noch da war, wieviel schon weg. Ich war Täter und Zeuge zugleich, Schauspieler und Publikum in einem Einmanntheater. Ich konnte meiner fortschreitenden Zergliederung zusehen. Stück für Stück konnte ich mich verschwinden sehen.
Es waren freilich schwere Zeiten für jedermann. In meiner Erinnerung bilden sie ein Chaos aus Politik und Aufmärschen, Empörung, Megaphonen und Gewalt. Im Frühjahr 1968 schien jeder Tag einen neuen Umsturz hervorzuwürgen. Wenn nicht in Prag, dann in Berlin; wenn nicht in Paris, dann in New York. In Vietnam waren eine halbe Million Soldaten. Der Präsident verzichtete auf eine zweite Kandidatur. Leute wurden ermordet. Nach jahrelangen Kämpfen war der Krieg so wichtig geworden, daß nun auch die banalsten Gedanken davon infiziert waren, und ich wußte, daß ich, egal was ich tat oder nicht tat, ebenso daran teilhatte wie jeder andere. Als ich eines Abends auf einer Bank im Riverside Park saß und auf das Wasser hinausschaute, sah ich am anderen Ufer einen Öltank explodieren. Plötzlich stand der Himmel in Flammen, und als ich brennende Trümmerstücke über den Hudson treiben und zu meinen Füßen landen sah, kam mir der Gedanke, daß man der Wahrheit schwere Gewalt antun müßte, wollte man Inneres und Äußeres voneinander trennen. Im selben Monat noch wurde der Columbia-Campus zu einem Schlachtfeld, Hunderte von Studenten wurden verhaftet, darunter Tagträumer wie Zimmer und ich selbst. Ich gedenke nicht, das hier in irgendeiner Weise zu erörtern. Jedermann ist mit der
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