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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Geschichte jener Tage vertraut, und es hätte gar keinen Sinn, noch einmal davon anzufangen. Womit ich aber nicht sagen will, daß man sie vergessen sollte. Meine eigene Geschichte fußt auf den Trümmern jener Tage, und solange das nicht klar ist, wird sie ganz und gar sinnlos erscheinen.
    Als ich (im September 1967) das dritte Studienjahr antrat, war mein Anzug schon lange hinüber. Ramponiert von dem Wasserschwall bei den Unruhen in Chicago, war der Hosenboden durchgewetzt und das Jackett an Taschen und Schlitz eingerissen, und schließlich hatte ich ihn verloren gegeben. Ich hängte ihn als Andenken an glücklichere Tage in meinen Wandschrank, zog los und kaufte mir die billigsten und haltbarsten Kleider, die ich finden konnte: Arbeitsstiefel, Bluejeans, Flanellhemden und eine gebrauchte Lederjacke aus einem Army-Laden. Meine Freunde waren entsetzt über diese Verwandlung, aber ich sagte kein Wort dazu, denn was sie dachten, war noch meine geringste Sorge. Dasselbe galt für das Telefon. Nicht, um mich von der Welt zu isolieren, ließ ich es abstellen, sondern schlicht deshalb, weil es Ausgaben bedeutete, die ich mir nicht mehr leisten konnte. Als Zimmer mir deswegen eines Tages vor der Bücherei Vorhaltungen machte (er schimpfte, wie schwer ich jetzt zu erreichen sei), wich ich meinen Finanzproblemen aus und redete lang und breit über Drähte, Stimmen und den Tod der menschlichen Kommunikation. «Eine elektrisch übermittelte Stimme ist keine wirkliche», sagte ich. «Wir haben uns alle an diese Phantome unserer selbst gewöhnt, aber wenn man mal darüber nachdenkt, ist das Telefon ein Instrument der Verzerrungen und Hirngespinste. Verkehr zwischen Gespenstern, verbale Absonderungen von körperlosen Geistern. Ich will den Menschen, mit dem ich spreche, sehen können. Wenn das nicht geht, möchte ich lieber überhaupt nicht sprechen.» Solches Gerede wurde nun typisch für mich - Ausflüchte, Zweideutigkeiten, verrückte Theorien, mit denen ich auf ganz vernünftige Fragen reagierte. Da ich nicht wollte, daß jemand erfuhr, wie schlecht es mir ging, glaubte ich mir nur mit Lügen aus solchen Verlegenheiten helfen zu können. Je schlechter es mir ging, desto bizarrer und verdrehter wurden meine Erfindungen. Warum ich das Rauchen aufgegeben hatte, warum das Trinken, warum ich es aufgegeben hatte, in Restaurants zu essen - nie war ich um eine absurd rationale Erklärung verlegen. Am Ende redete ich wie ein anarchistischer Einsiedler, ein Endzeit-Spinner, ein Maschinenstürmer. Doch meine Freunde amüsierten sich, und so gelang es mir, mein Geheimnis zu bewahren. Stolz spielte bei diesen Faxen zweifellos eine Rolle, entscheidend aber war, daß niemand mir in den Weg treten sollte, den ich mir selbst bestimmt hatte. Darüber zu reden hätte nichts als Mitleid und womöglich sogar Hilfsangebote eingebracht, und das hätte mir die ganze Tour vermasselt. Lieber verschanzte ich mich hinter dem Wahnsinn meines Plans, blödelte bei jeder sich bietenden Gelegenheit herum und wartete darauf, daß meine Zeit ablief.
    Das letzte Jahr war das schlimmste. Im November hörte ich auf, meine Stromrechnungen zu bezahlen, und im Januar kam jemand von Con Edison und stellte mir den Zähler ab. Danach experimentierte ich mehrere Wochen lang mit verschiedenen Kerzen und beschäftigte mich eingehend mit Preis, Leuchtkraft und Lebensdauer der einzelnen Sorten. Zu meiner Überraschung erwiesen sich jüdische Gedenkkerzen als die günstigsten. Ich empfand das Flackern von Licht und Schatten als außerordentlich schön, und da nun auch der Kühlschrank (mit seinem sporadischen, unerwarteten Geschütter) zum Schweigen gebracht war, glaubte ich ohne Strom auf jeden Fall besser dran zu sein. Was man sonst auch über mich hätte sagen können, unterzukriegen war ich jedenfalls nicht. Ich fand die verborgenen Vorteile heraus, die jeder Mangel mit sich brachte, und hatte ich erst einmal gelernt, ohne eine bestimmte Sache auszukommen, schlug ich sie mir für immer aus dem Kopf. Daß es nicht ewig so weitergehen konnte, war mir klar (am Ende würden Dinge übrigbleiben, auf die ich nicht verzichten konnte), doch vorläufig staunte ich darüber, wie wenig ich den verlorenen Dingen nachtrauerte. Langsam, aber sicher merkte ich, daß ich fähig war, sehr weit zu gehen, viel weiter, als ich für möglich gehalten hätte.
    Nachdem ich die Studiengebühren für mein letztes Semester bezahlt hatte, blieben mir nur noch knapp sechshundert Dollar; dazu ein

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